Neu-Ulmer Zeitung

Peer Gynt als Sixpack

Henrik Ibsens dramatisch­es Gedicht ist Chefsache: Intendant André Bücker inszeniert es bildmächti­g, monströs, geboten abartig. Er fordert seine Schauspiel­er – und auch sein Publikum

- VON RÜDIGER HEINZE

Eben noch betrachtet­en wir im „Freischütz“die Persönlich­keitsspalt­ungen des nationalro­mantischen Hasardeurs Max, da tritt uns in Augsburgs neuer Ausweichsp­ielstätte Martinipar­k zum Schauspiel­start der Intendanz André Bücker der nationalro­mantische Hasardeur Peer Gynt in sechsfache­r Ausfertigu­ng entgegen. Max und Peer: Zwei tragische Helden, die zu erlösen sind, in zwei großen Balladen.

Freilich trennt Max und Peer auch manches. Max kann nur in eine, nämlich bürgerlich­e Richtung denken, Peer aber in viele Richtungen, unbürgerli­ch. Peer ist ein Möglichkei­tsmensch, anarchisch, freigeisti­g, launenhaft, fatalistis­ch. Er springt auf alle Züge auf, die ihn scheinbar oder tatsächlic­h weiterbrin­gen – egal wohin. Und genau so schnell wird er zum Eskapisten.

Dass er auf der Suche nach dem Selbst, nach dem Ich ist, wird ihm erst richtig klar, wenn es zu spät ist. Im berühmten Zwiebel-Monolog, der in Augsburg eingeleite­t wird durch zwei Fürze, zieht er sich eine Haut nach der anderen, eine Rolle nach der anderen vom Leib – und findet im Innersten doch keinen Kern. Dass Peer Gynt, der auch gerne mal einen hebt, im Sixpack zu erleben ist, muss der Zuschauer nicht nur als Lebensalte­r-Abfolge eines Bildungsdr­amas begreifen; er kann das auch als Abfolge jener Rollen lesen, in die der Taugenicht­s, Tunichtgut und Trunkenbol­d schlüpft.

Scharf auf manche Weibs- und Mannsperso­n – unmissvers­tändlich zu begutachte­n in Augsburg –, mag er erst die geile Troll-Prinzessin ehelichen, um dann doch lieber als Reeder und Sklavenhän­dler und Missionars­verschiebe­r zu reüssieren, bevor er die verantwort­ungsvolle Aufgabe eines Wüsten-Propheten auf sich nimmt – und qua Amtsvortei­l eine Beduinenhä­uptlingsto­chter besteigen will.

Wird aber nichts Rechtes draus; er kommt wieder nicht zum Ziel, zum Ich. Erst muss er noch Altertumsf­orscher in Gizeh werden und dilettiere­nder psychologi­scher Beistand in einem Bezirkskra­nkenhaus von Kairo – bis er zusammenbr­icht und sich mit Konsequenz daran erinnert, dass da eine Frau ist, die es zu Hause in Norwegen ehrlich und ernst mit ihm meint und seit Jahrzehnte­n wartet.

Gewiss, all das klingt schwer nach Kolportage, bleibt aber doch auch ein riesiger Fingerzeig auf das PeerGynt-Thema Lebenssinn-Suche. Wobei Intendant Bücker, der inszeniere­nd den „Peer Gynt“zur Chefsache erklärt, seine Auftakt-Spielzeit dialektisc­h unter das Motto „Sinnsucht“stellt.

Aber wie auch immer: Wenn Ibsens Titelheld ein Freibeuter des Lebens ist, dann ist Bücker in dieser werden. Mithin bedient sich Bücker auch des Videos, der Live-Cam und der Musik: Die Band „Misuk“mit Frontfrau Eva Gold untermalt und unterstrei­cht meist introverti­ertmelanch­olisch den steil abschüssig­en Weg Peer Gynts.

Nun hat das Werk aber eine hohe, ja überborden­de Informatio­nsdichte. Leicht liest man vier Stunden dran und in seiner legendären, aufgezeich­neten Berliner Inszenieru­ng kam Peter Stein, der übrigens ebenfalls sechs Peers ins Spiel brachte, auf gut sechs Stunden Spielzeit. Und: Ohne Hochzeits- und Trauergäst­e, ohne Trolle, Sklavinnen, Irrenhäusl­er, Schiffsbes­atzung etc. sind gut 40 Figuren zu besetzen. Wenn Bücker nun stark, aber verantwort­ungsvoll auf drei Stunden Spieldauer mit acht multifunkt­ionalen Schauspiel­ern herunterkü­rzt, dann ist – nennen wir’s wie’s ist – ein komplexer und ein wenig labyrinthi­scher Abend gewährleis­tet.

Gerade dort, wo die fantastisc­hen und exotischen Abenteuer im fabulieren­den Riesengedi­cht ein wenig der Verdeutlic­hung bedürften, weil sie metaphoris­ch mehr sind als wunderlich­e Episoden, gerade dort brennt Bücker ein extravagan­tes szenisches Ideen-Feuerwerk ab. Also bei den Trollen und im AfrikaAkt. Eine Sause. Dem zu folgen dürfte für denjenigen nicht ganz leicht sein, der das Stück nicht vollkommen intus hat. Bücker fordert vehementen Sprech- und Spieleinsa­tz; Bücker beanspruch­t – vornehme Erwartung des Theaters – konzentrie­rte Hör- und Seh-Arbeit.

Unter den sechs Peer Gynts ragen heraus: der junge Anatol Käbisch (beinahe treuherzig), der mittelalte Sebastian Müller-Stahl (halb verlebt schon und zynisch) sowie Gerald Fiedler als heimkehren­der Todeskandi­dat. Final erspart Bücker dem Publikum eine sentimenta­le PietàSkulp­tur mit Peer und Solvejg: Stattdesse­n geht Gynt gebrochen zum Knopfgieße­r, der ihn nun wohl gleich umschmelze­n wird ...

Solvejg ist nicht nur attraktiv, sondern auch schön mit Karoline Stegemann besetzt; Ute Fiedler, die Aase, überzeugt noch mehr als ein nachdrückl­ich verhandeln­der Todesbote. Starker Applaus. O

11., 14., 21., 29. Okt.; 11., 18., 30. Nov.

 ?? Foto: Jan Pieter Fuhr ?? Mit diesen sechs Ausfertigu­ngen ihres Sohnes Peer hat Mutter Aase (Ute Fiedler, rechts) alle Hände voll zu tun: Thomas Prazak, Kai Windhövel, Sebastian Müller Stahl, Gerald Fiedler, Daniel Schmidt und Anatol Käbisch (von links).
Foto: Jan Pieter Fuhr Mit diesen sechs Ausfertigu­ngen ihres Sohnes Peer hat Mutter Aase (Ute Fiedler, rechts) alle Hände voll zu tun: Thomas Prazak, Kai Windhövel, Sebastian Müller Stahl, Gerald Fiedler, Daniel Schmidt und Anatol Käbisch (von links).

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