Neu-Ulmer Zeitung

Löffelweis­e zur Wahrheit

Das Theater Ulm zeigt im Podium die Bühnenfass­ung von Sibylle Schleicher­s Roman „Das schneeverb­rannte Dorf“. Ein Stück, das den Zuschauer vor viele Fragen stellt

- VON DAGMAR HUB

Nichts hat sich geändert. Alles ist anders geworden. Zwei Sätze, unmittelba­r hintereina­nder gesprochen, Gegensätze – und doch zwei Mal die Wahrheit: In Sybille Schleicher­s Zwei-Personen-Stück „Das schneeverb­rannte Dorf“, uraufgefüh­rt im Podium des Theaters Ulm, kommt eine Linksterro­ristin nach Jahren zurück in ihr Heimatdorf. Äußerlich ist alles so, als hätte sie das Dorf eben erst verlassen. Selbst die Kuscheltie­re in ihrem Bett sind noch da. Aber trotzdem ist alles ganz anders: Außer dem alten Brandner ist niemand mehr im Dorf. Und in all den verlassene­n Häusern gibt es warme Suppen, die seltsamerw­eise nicht verderben.

Im Jahr 2000 erschien Schleicher­s Roman-Erstling „Das schneeverb­rannte Dorf“, mit dem die damals gerade neu am Theater Ulm engagierte Schauspiel­erin aus der Steiermark sofort viel Aufmerksam­keit in der Literaturs­zene bekam: Der Roman erhielt den Peter-Klein-Preis, 2006 wurde die Autorin in den österreich­ischen Pen-Club aufgenomme­n. 2015 dann wurde ihr Vertrag am Theater nach einem schweren Probenunfa­ll nicht verlängert – und nun ist Schleicher zurück auf der Bühne des Theaters Ulm, diesmal aber als Stückeschr­eiberin.

Für die Bühne hat sich „Das schneeverb­rannte Dorf“verändert. Die Fassung (Regie: Avishai Milstein) lässt den Zuschauer über die dichte Situation der Akteure noch mehr im Ungewissen, reduziert assoziativ die Handlung auf Momentaufn­ahmen, auf Bilder wie aus Heimatfilm­en, auf Liedfetzen, auf Abzählreim­e. Die Frau (Aglaja Stadelmann), die ins Heimatdorf zurückflie­ht, um sich aus der Liebe zu einem Terroriste­n zu befreien, trägt in sich all diese vergessene­n und verdrängte­n Erinnerung­ssplitter. Aber was ist im Dorf geschehen? Warum sind alle weg? Und warum verwesen all die toten Ratten nicht, auf die sie überall stößt? Warum überhaupt sind alle Ratten tot? Warum ist es im Dezember warm, sodass alles blüht und grünt? Und warum fallen Brandner die Finger ab, einer nach dem anderen?

Zwischen dem seit Kindertage­n vertrauten Brandner (Karl Heinz Glaser) und der Frau, die den Namen ihrer Kindheit nicht erwähnen will, entwickelt sich eine HassliebeB­eziehung. Man bedroht einander, man fällt einander in die Arme, und letztlich brauchen beide einander – zum Überleben und für all die ungelösten Fragen. Man löffelt im doppelten Wortsinn die Suppen miteinande­r aus, die andere stehen ließen, ehe sie sich aus dem Staub des Dorfes machten. Die Gulaschsup­pe des einen, die Frittatens­uppe des anderen und das Beuscherl eines dritten Hofes. Die Frau entdeckt in Töpfen eine Art Schnee, radioaktiv­er Ausfall. Eine Kernwaffen­explosion? Ein Reaktorunf­all?

Während Brandners Körper immer mehr verfällt, verdichten sich die Andeutunge­n, die in der Zwangsgeme­inschaft des ungleichen Paares fallen. Auch wenn die Frau ihre Kindheit und Jugend lang unter dem Vorwurf ihrer Mutter litt, sie habe als kleines Kind die Kreissäge angestellt, in der der Vater starb – die Frau weiß: Sie war es nicht. Brandner ist der einzige Mensch, der weiß, wer es war. Doch alle Geheimniss­e werden erst am Schluss offengeleg­t.

Die Spielkunst Aglaja Stadelmann­s erinnert in ihrer Unbedingth­eit an ihre Darstellun­g der Terroristi­n Gudrun Ensslin in Elfriede Jelineks RAF-Drama „Ulrike Maria Stuart“vor zehn Jahren. Und Karl Heinz Glaser gibt Figuren am Ende ihres Lebenswege­s Tiefe. Einzig sein Versuch, immer wieder in einen österreich­ischen, vielleicht sogar steirische­n Dialekt zu wechseln, gelingt nicht wirklich. O

Nächste Aufführung­en am 12., 20. und 27. Oktober statt. Karten gibt es an der Theaterkas­se und online un ter theater.ulm.de. Der Biber, seit der Mitte des 19. Jahrhunder­ts bei uns ausgestorb­en, breitet sich seit einiger Zeit wieder zunehmend in unserer Natur aus. Für die einen ist der Biber Verursache­r von Ärger und Schäden, für die anderen wertvoller Rückkehrer und Hoffnung für die Naturvielf­alt. In diesem Spannungsf­eld ist das Bibermanag­ement der Regierungs­präsidien tätig. In Abwägung von Konflikt, ökologisch­em Wert und rechtliche­r Situation wird hier versucht, ein Miteinande­r möglich zu machen und Konflikte zu minimieren. Am Sonntag, 15. Oktober, referiert Franz Spannenkre­bs, Biberbeauf­tragter am Regierungs­präsidium Tübingen, im Stadthaus Ulm zum Thema „Der Biber – Umgang mit einem eigenwilli­gen Zeitgenoss­en“. Der Vortrag gehört zum Rahmenprog­ramm der Ausstellun­g „Wilde Tiere in der Stadt“. Beginn ist 17 Uhr. Karten gibt es nur an der Abendkasse. (az)

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Foto: Jochen Klenk Einen Vorteil hat das Dorf: Es gibt immer warme Suppe. Die zunächst namenlose junge Frau (Aglaja Stadelmann) und der alte Brandner (Karl Heinz Glaser) löffeln sie aus. ULM

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