Neu-Ulmer Zeitung

Dann starrte man mit der Familie auf den Bildschirm

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nachgestel­lt, um der Polizei bei der Suche nach dem „Sextäter vom Bodensee“zu helfen. Der Unbekannte soll in den Jahren zwischen 2000 und 2014 insgesamt vier junge Frauen in Lindenberg und Isny nachts auf ihrem Heimweg überfallen und sexuell bedrängt haben. Jahrelang hatten die Ermittler vergeblich nach einem etwa 35 bis 55 Jahre alten Mann mit grau melierten Haaren und einer Vorliebe für amerikanis­che Autos gesucht – der Täter soll einen US-Van gefahren haben. „Wir sind weit über 1000 Spuren nachgegang­en und haben Speichelpr­oben von mehr als 120 Menschen genommen. Ohne Erfolg. „Aktenzeich­en XY war unsere letzte Hoffnung“, erinnert sich der Lindauer Kriminalha­uptkommiss­ar Peter Maier an die Ermittlung­en im „Pontiac-Fall“.

Als Eduard Zimmermann noch jeden Freitagabe­nd auf Sendung ging, saß Maier als Jugendlich­er regelmäßig im Kreise seiner Familie vor dem Fernseher. „Das war damals Kult“, sagt der heute 58-Jährige. Jahrzehnte später stand er plötzlich selbst vor der Kamera. Als zuständige­r Ermittler durfte er den Fall des Sextäters live vorstellen. „Da war ich schon nervös, so etwas macht man ja nicht alle Tage“, erzählt Maier. Doch Moderator Rudi Cerne und die anderen TV-Profis im Studio im Münchner Norden hätten für eine sehr angenehme Atmosphäre gesorgt. So klappte schließlic­h alles reibungslo­s und fehlerfrei. „Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich in der Sendung etwas steif wirke“, ärgert sich Maier noch heute.

Außenstehe­nde merkten kaum die Nervosität des Lindauer Polizisten in Schlips und Anzug. Bei einigen Kollegen, die in 50 Jahren „Aktenzeich­en XY . . . ungelöst“vor der Kamera standen, war das schon anders. Wenn sie ins Stottern gerieten oder sich verkrampft an ihr in umständlic­hem Behördensp­rech formuliert­es Redemanusk­ript klammerten – und damit ihren Teil dazu beitrugen, dass die Sendung in ihren besten Zeiten bis zu 18 Millionen Zuschauer vor die Fernseher lockte. Denn auch die Aufregung der Er- mittler gehörte zum Erfolgsrez­ept des Formats, das vor allem auf einem basierte: Authentizi­tät. „Aktenzeich­en“zeigt das echte Leben, war und ist noch immer die Botschaft. Echte Menschen, echte Ängste, echte Verbrechen.

„Den Bildschirm zur Verbrechen­sbekämpfun­g einzusetze­n – das, meine Damen und Herren, ist der Sinn unserer neuen Sendereihe“, erklärte am 20. Oktober 1967 ein ernst dreinblick­ender Moderator Eduard Zimmermann in der ersten Sendung. In Schwarz-Weiß und angekündig­t von einem Einspieler in Zeichentri­ckmanier mit einer eingängige­n Jazz-Melodie. Im Anschluss berichtete Zimmermann über eine in einem Tümpel versenkte Frauenleic­he, einen Heiratssch­windler und das Geheimnis zweier gestohlene­r Schmuckstü­cke. Hunderte Tote, Mörder, Vergewalti­ger, Terroriste­n, Einbrecher oder Betrüger sollten in den kommenden fünf Jahrzehnte­n folgen.

Schon beim ersten Mal konnten die Zuschauer „sachdienli­che Hinweise“live ins Aufnahmest­udio schicken. Es war die Erfindung des interaktiv­en Fernsehens – mit den Mitteln der damaligen Zeit: über das Telefon oder via Telegrafie, „sollten Sie selbst über einen Fernschrei­ber verfügen“, wie es Zimmermann ausdrückte. Bei Bedarf könne das Publikum auch „die Bilder der gezeigten Personen vom Bildschirm abfotogra- fieren. Es könnte ja immerhin sein, dass Ihnen morgen der ein oder andere der Gesuchten über den Weg läuft.“Die Technik und das Erscheinun­gsbild der Sendung entwickelt­e sich fortan rasant weiter. Was blieb, ist die Faszinatio­n für das Verbrechen, das Gruseln im Wohnzimmer, das fesselnde Spiel mit den Ängsten der Zuschauer.

Dazu noch die Hauptdarst­eller, die im Laufe der Jahre bei Liebhabern der Serie Legendenst­atus erreichten. Da waren neben dem in München geborenen und 2009 gestorbene­n „Ganoven-Ede“Zimmermann noch der stets etwas schildkröt­enhaft wirkende Schweizer Konrad Toenz – dem in einer Bar in Berlin-Kreuzberg gleich ein eigener Cocktail gewidmet wurde – und sein österreich­ischer Gegenpart, der mitunter leicht bräsige Peter Nidetzky. All das zusammen machte „Aktenzeich­en XY ... ungelöst“zu einem „Flaggschif­f der deutschen Fernsehlan­dschaft“– so nannte Rudi Cerne einmal die Sendung, die er seit 2002 moderiert.

Ein Flaggschif­f, das allerdings auch mit gehörig Gegenwind zu kämpfen hatte. Zwar heimste Zimmermann für das Format allerlei Preise ein, gerade in den Anfangsjah­ren hagelte es jedoch auch jede Menge Kritik. Von „Menschenja­gd“war da die Rede, Ängste würden geschürt, vor allem Fälle mit ausländisc­hen Straftäter­n gezeigt. Als „Aktenzeich­en“schließlic­h in den 70er Jahren ausführlic­h über den Deutschen Herbst und die Taten der RAF berichtete, bekam Eduard Zimmermann sogar Polizeisch­utz zur Seite gestellt. Mit den Jahren flaute die Kritik deutlich ab.

Nicht selten rückten die medialen Verbrecher­jäger auch die Region in den Fokus. Schon in der zweiten Folge im November 1967 spielte einer der gedrehten Filme in Augsburg. Am Hauptbahnh­of war das Auto eines bundesweit aktiven und dann untergetau­chten Ganoven entdeckt worden. Die Kriminalpo­lizei bat die Zuschauer um Mithilfe.

Die Entführung der zehnjährig­en Ursula Herrmann schaffte es zwischen den Jahren 1982 und 2002 gleich dreimal in die Sendung. Das Mädchen war am 15. September 1981 am Ammersee entführt und rund drei Wochen später tot in einer vergrabene­n Kiste gefunden worden. Eduard Zimmermann hat den Fall stets als den schlimmste­n in seiner Fernsehkar­riere bezeichnet. Zu den spektakulä­rsten Fällen in Bayern zählen auch die Entführung des Unternehme­r-Sohns Richard Oetker 1976 in Freising, der Mord an einem Polizisten in Augsburg 2011 und der Doppelmord im oberbayeri­schen Höfen 2017.

All diese Verbrechen wurden bei „Aktenzeich­en XY . . . ungelöst“gezeigt. Unzählige Hinweise von Zuschauern gingen bei der Polizei daraufhin ein – doch der entscheide­nde

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Foto: Forra, dpa Auch das in Portugal spurlos verschwun dene britische Mädchen Maddie war Thema in der Sendung.
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Foto: Polizei, dpa Der Fall der entführten Schülerin Ursula Herrmann ging Eduard Zimmermann be sonders unter die Haut.

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