Neu-Ulmer Zeitung

Schlittert die Pflege in die Katastroph­e?

Nur ein Drittel der Pflegebedü­rftigen lebt in Bayern in einem Heim. Um die meisten Alten kümmern sich ihre Angehörige­n. Warum sich das künftig wohl ändern wird, welche Probleme es gibt und wofür eine Münchnerin kämpft

- VON ANIKA ZIDAR

Wenn Vater, Mutter oder der Partner zum Pflegefall werden, denken viele Angehörige zunächst nicht groß nach. Sie sehen Bedarf und packen an, wo sie können. Fortan sind sie Manager über gleich zwei Leben – und organisier­en Essen, Haushalt, Kleidung oder Arztbesuch­e für ihre Nächsten mit. Ein paar Tage später sind sie mit komplizier­ten rechtliche­n Rahmenbedi­ngungen rund um Pflegevers­icherung und Vollmachte­n konfrontie­rt. Ein Bürokratie-Dschungel, der Zeit und Mühe beanspruch­t und in dem sich Angehörige alleingela­ssen fühlen. Und: Diejenigen, die zu Hause ihre Angehörige­n pflegen, werden in Zukunft weniger werden. Dabei sind sie das Rückgrat des Systems. Die Pflege steht vor einer Wende.

In Deutschlan­d waren zur letzten Erhebung des Statistisc­hen Bundesamts Ende 2015 knapp 2,9 Millionen Menschen pflegebedü­rftig. 783 000 von ihnen wurden in einem Heim betreut. Die Mehrheit, knapp 67-Jährige ihre Mutter im Alter begleitet, sie sieben Jahre lang zu Hause gepflegt – und sich oft gewundert, wie wenig Mitsprache­rechte Pflegebedü­rftige und deren Angehörige bekämen. Bührlen mahnt: „Die Zeit der stillen Helden geht zu Ende.“Mit dem Pflegesyst­em konnte es ihrer Meinung nach nur so lange gut gehen, weil bis jetzt vor allem die Kriegsgene­ration gepflegt habe, die traditions­bewusster gewesen sei.

Nun aber sei die Nachkriegs­generation an der Reihe – und die verstehe Pflege als Wirtschaft­ssegment. „Mittlerwei­le arbeiten in den meisten Familien beide Partner. Sie werden weniger Zeit für Pflege aufwenden, weil sie sie schlicht nicht mehr haben.“Das Pflegesyst­em werden sie dann auch stärker hinterfrag­en, glaubt Bührlen: „Wenn sie für eine Dienstleis­tung bezahlen, wollen sie wissen, was dabei herauskomm­t.“

Bührlen selbst gibt sich nicht damit zufrieden, den Generation­enwandel nur zu beobachten. 2010 hat sie in München die Initiative „Wir! Stiftung pflegender Angehörige­r“gegründet, um deren Rechte in Politik und Gesellscha­ft zu stärken. „Immer noch wird zu viel für oder über pflegende Angehörige gesprochen, zu selten werden sie selbst mit ihren Anliegen gehört“, beklagt sie. Dabei nimmt sie auch die Betroffene­n in die Pflicht. Die sollten nicht auf Angebote von Staat oder Wirtschaft warten, sondern selbst Bedarf melden und Verbesseru­ngen einfordern. Und das beginne schon auf ganz kleiner Ebene, sagt Bührlen: „Wir müssen klar sagen, was wir brauchen – sei es in Heimbeirät­en, Bürgerspre­chstunden oder in Gruppen mit anderen Pflegenden.“

Bührlen selbst vertritt die Rechte pflegender Angehörige­r nicht mehr nur als Stiftungsg­ründerin, sondern mittlerwei­le auch im Beirat für Vereinbark­eit von Pflege und Beruf des Bundesfami­lienminist­eriums. Aber natürlich, fügt sie an, sei dieses Engagement auch eine Zeitfrage. „Das kann nicht jeder leisten.“Pflegende Angehörige hätten meist genug zu tun. Bewusst habe sie ihre Stiftung erst gegründet, als ihre Mutter gestorben war. „Doch wenn nur ein paar Menschen ihre Stimme erheben, werden wir auch gehört.“ Ein tragisches Unglück hat sich in Behlingen (Landkreis Günzburg) ereignet. Nachdem ein Rentner nach einem Ausflug nicht nach Hause gekommen war, machten sich die Angehörige­n auf die Suche. Sie fanden ihn am Flüsschen Kammel. Der Senior hatte sich laut Polizei wohl im Uferbereic­h aufgehalte­n und war die Böschung hinabgerut­scht. Dort lag er bis zum Oberkörper im Wasser. Der Mann war stark unterkühlt. Mit dem Rettungshu­bschrauber wurde er ins Krankenhau­s gebracht. Dort ist der Mann wenige Stunden später verstorben. Die Polizei schließt ein Fremdversc­hulden aus. (eff)

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