Wie alte und neue Ulmer leben
Beim Flüchtlingsdialog im Einsteinhaus tauschen freiwillige Helfer und Zuwanderer Erfahrungen aus. Auch ein Kritiker meldet sich zu Wort
Seit etwa zwei Jahren lebt Amer Alabdallah in Ulm. Zu Beginn war der heute 28-Jährige aus Syrien in einer Turnhalle untergebracht gewesen, inzwischen lebt er in einer eigenen Wohnung und hat ein Studium zum Chemieingenieur an der Uni Ulm aufgenommen. Er sagt: „Ich finde, dass ich meine Heimat hier in Ulm gefunden habe.“
Mittwochabend im Club Orange des Einsteinhauses: Alabdallah und andere Flüchtlinge schildern ihre Erfahrungen in Ulm, ehrenamtliche Helfer und der Koordinator der Stadt berichten von ihrer Arbeit und den Schwierigkeiten. Knapp 80 Zuhörer sind gekommen. Zum zweiten Mal findet der sogenannte Flüchtlingsdialog statt, der neue und alte Ulmer zusammenführen und den Austausch erleichtern soll. Um das auch nach außen deutlich zumachen, haben die Veranstalter den Raum umgebaut. Die Sprecher sitzen nicht auf dem Podium im Club, sondern rund um einen Tisch und auf der gleichen Höhe wie die Zuhörer. Zwei Plätze am Tisch sind frei für Leute, die Fragen stellen und Anliegen vorbringen wollen.
Der Aufbau führt zwar dazu, dass von hinten kaum zu sehen ist, wer vorne am runden Tisch Platz genommen hat. Doch er funktioniert. In rascher Folge lässt sich ein Gast nach dem anderen auf einem der Stühle am runden Tisch nieder. Die meisten sind selbst nach Deutschland geflohen, in der Flüchtlingsarbeit engagiert oder wollen damit beginnen. Doch gleich der erste Gast ist keiner von ihnen: „Ich finde die Flüchtlingspolitik von Frau Merkel gewissenlos“, sagt er. Die Zuwanderung habe die Wohnungsnot in der Universitätsstadt Ulm nur noch weiter verschärft. Wer ein knappes Budget habe, finde kaum mehr eine vernünftige Bleibe. „Flüchtling zu sein, habe ich nicht selber entschieden. Wir kamen nicht nach Deutschland, um Probleme zu ma- chen“, entgegnet Amer Alabdallah. Auch ein anderer Besucher spricht die Wohnungsnot an, doch seine Perspektive ist eine andere.
Der Mann fragt Werner Fischer, den städtischen Koordinator für die Flüchtlingsarbeit, ob es für die 300 geflüchteten Männer, die am Eselsberg untergebracht sind, keine geeignetere Unterkunft gebe. „Wir haben die Priorität, zuerst ziehen Familien mit Kindern aus den Sammelunterkünften aus“, antwortet der. Danach kämen alleinerziehende und dann alleinstehende Frauen. Fischer berichtet, dass die Stadt immer wieder versucht habe, Wohn- gemeinschaften aus Flüchtlingen zu bilden. Doch die Männer seien oft kurzfristig abgesprungen. „Das ist zu zeitintensiv geworden. Die Flüchtlinge müssen jetzt Gruppen bilden und auf uns zukommen“, sagt der Koordinator.
Organisationen wie der Verein Menschlichkeit beobachten, dass die Zahl der Ehrenamtlichen sinkt. Andrea Engel-Benz, Sprecherin des Runden Tischs Flüchtlinge und selbst Patin einer syrischen Familie, glaubt einen Grund zu kennen: „Ich bin immer nur mit dem BürokratieZeug beschäftigt, es ist ein unglaublicher Papierwust.“Das frustriere viele Freiwillige. „An jeder Stelle gibt es Kümmerer, aber jeder stößt an seine Grenzen.“Engel-Benz hofft, dass der Staat die Bürokratie zurückschraubt.
Den Flüchtlingen selbst fehlen vor allem Kontakte zu Einheimischen. Student Amer Alabdallah sagt: „Ich finde, die Ulmer sind nicht sehr offene und aufgeschlossene Leute.“Er selbst habe Freunde gefunden. Doch andere Flüchtlinge hätten Schwierigkeiten, Kontakt zu den Einheimischen zu finden. Nur mit Landsleuten zusammenzuleben lehnt Abdallah ab. „Das ist nicht Integration“, betont der Syrer. Bestimmt die Hirnstruktur eines Menschen darüber, ob er straffällig wird? Diese und andere Fragen will der Psychiater Prof. Norbert Leygraf heute, Freitag, um 18 Uhr im Stadthaus anhand von Beispielen diskutieren. Der Mediziner wurde durch seine Gutachtertätigkeiten im Prozess um den Kindsmörder Magnus Gäfgen im NSUProzess bundesweit bekannt. Sein Vortrag ist Teil der JubiläumsVortragsreihe „Das Gehirn – ein außergewöhnliches Organ“. (az)