Zuvor wurde er noch als Staatsfeind beschimpft
werden sollte. Das erübrigte sich wegen der Entscheidung zur vorläufigen Freilassung der Angeklagten.
Doch auch bei diesem Beschluss dürfte eine politische Intervention eine Rolle gespielt haben. In einem Fall wie dem von Steudtner und Co, in dem Erdogan persönlich die Beschuldigten als Staatsfeinde beschimpft hat, wird sich kein türkischer Staatsanwalt oder Richter allein auf rechtsstaatliche Grundsätze verlassen. Die Regierung kontrolliert die Besetzung der Gerichte und hat seit dem Putschversuch 2016 mehr als 4000 unbotmäßige Richter abgesetzt. Wahrscheinlich haben Richter und Staatsanwalt in Istanbul einen Hinweis aus Ankara erhalten, kommentierte der amerikanische Türkei-Experte Howard Eissenstat.
Mehrmals hat Erdogan öffentlich betont, dass westliche Häftlinge in der Türkei nur dann mit Freilassung rechnen können, wenn im Gegenzug angebliche türkische Staatsfeinde aus dem Ausland in die Türkei überstellt werden. Westliche Politiker werfen dem türkischen Staatspräsidenten deshalb vor, westliche Bürger in den Gefängnissen des Landes als „Geiseln“zu betrachten.
Jetzt hat Erdogan selbst seine eigenen Anhänger mit der Kursänderung im Fall der Menschenrechtler überrascht. Die regierungsnahe Presse hatte Steudtner und die anderen über Monate als gewiefte Geheimagenten beschrieben, die auf der Insel Büyükada einen Aufstand gegen Erdogan und die Zerstörung der staatlichen Einheit der Türkei geplant hätten. Dass sie nun auf freien Fuß gesetzt wurden, zerstörte ihr Feindbild. Die Erdogan-treue Zeitung Yeni Akit nannte die Freilassungen deshalb einen „Skandal“.
Dennoch ist eine Änderung der harten Haltung der türkischen Regierung bei der Verfolgung ihrer Kritiker nicht erkennbar. Während Steudtner am Mittwochabend die Nachricht von seiner Freilassung bekam, nahm die Istanbuler Polizei die Journalistin Zeynep Kuray wegen angeblich staatsfeindlicher Facebook-Mitteilungen fest. Das Polizeiverhör für den Unternehmer und Kulturförderer Osman Kavala, einen in der vergangenen Woche festgenommenen wichtigen Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft, wurde am Donnerstag um weitere sieben Tage verlängert. Kavala hat nach wie vor keinen Zugang zu einem Anwalt.