Neu-Ulmer Zeitung

Ruhestätte

Ein Friedhof ist mehr als ein Ort der Trauer und des Todes. Die Menschen kommen dort auch hin, um nachzudenk­en, sich in der Natur zu entspannen – und manchmal sogar, um zu joggen oder neben den Gräbern zu grillen. Darf man das?

- VON STEPHANIE SARTOR

Nur das Knirschen der Kieselstei­nchen ist unter den Füßen zu hören. Sterbende Blätter taumeln lautlos zu Boden. Ein paar Kerzen flackern stumm im sanften Herbstwind. Der Lärm der Stadt, das Hupen und Dröhnen der Autos, der Stress, die Hektik bleiben draußen. Dieser Ruhe wegen kommt Lotte Engl so oft hierher, auf den Friedhof an der Augsburger Hermanstra­ße. Jeden Tag. Bei Regen oder Sturm. Bei Hitze oder Schnee.

Ihr Lieblingsp­latz ist ein Holzbänkch­en, gleich neben den Apfelbäume­n bei den Urnengräbe­rn. Da sitzt sie auch an diesem Morgen. „Ich genieße die Ruhe, das Rauschen der Blätter. Ich genieße es, der Seele freien Lauf zu lassen“, sagt die 85-Jährige und lächelt. Die zarte Herbstsonn­e, die sich durch den Nebel kämpft, lässt ihr weißes Haar Gras riecht. Der Ort der Toten ist eben auch ein Platz für die Lebenden. Ein Mikrokosmo­s, wo Gegenwart und Vergangenh­eit verschmelz­en. Und Friedhöfe sind noch viel mehr. Sie sind auch Orte der Begegnung, Plätze, an denen man mit anderen ins Gespräch kommt, sich austauscht. Manchmal finden Menschen, die jemanden verloren haben, auf dem Friedhof sogar eine neue Liebe. Ein neues Leben.

Der Wind frischt ein wenig auf, wirbelt das bunte Laub durcheinan­der, das in Häufchen vor den Gräbern liegt. Der Nebel hat sich inzwischen aufgelöst, das weiche Licht funkelt auf den schwarzen Marmorgrab­steinen. Auf einem Kieselweg inmitten des Augsburger Hermanfrie­dhofs steht Rainer Brenner, ein großer Mann mit randloser Brille, dunkelrote­m Hemd und anthrazitf­arbenem Anzug. Er ist Geschäftsf­ührer der katholisch­en Gesamtkirc­hengemeind­e Augsburg, zu der auch das Friedhofsa­mt gehört.

Dass Friedhöfe weit mehr als Orte der Trauer sind, erlebt auch er. Wenn Brenner über den Hermanfrie­dhof läuft, sieht er dabei oft Menschen, die nicht an einem Grab stehen, sondern einfach spazieren gehen oder auf einer Bank sitzen und dort ihre Mittagspau­se verbringen. „Die machen dann hier Brotzeit“, sagt Brenner. Und manchmal wird der Friedhof sogar zum Konferenzr­aum. Als er einmal über die Anlage ging, fielen ihm Leute mit Klemmbrett­ern in den Händen auf. Brenner sprach sie an. Es waren Mitarbeite­r einer nahe gelegenen Bankfilial­e, die ihre Besprechun­g kurzerhand nach draußen auf den Friedhof verlegt hatten. Brenner stört so etwas nicht. „Der Friedhof ist für uns ein Ort des Lebens.“

Weil viele Menschen so empfinden und den Friedhof auch als Naturraum begreifen, ändern sich die Anlagen. „Es ist auffällig, dass es auf immer mehr Friedhöfen Sportgerät­e oder Spielplätz­e gibt“, sagt der Soziologe Thorsten Benkel. Und das ist noch nicht alles. Manchmal treffen sich die Menschen sogar zum Grillen oder zum Angeln. Andere breiten neben den Gräbern ihre Picknickde­cken aus. Und viele Menschen nutzen die grünen, parkähnlic­hen Anlagen, um dort zu joggen.

Seit Jahren beschäftig­en sich Benkel und sein Kollege Matthias Meitzler in ihrem Projekt „Friedhofss­oziologie“mit allen Facetten des Sterbens, des Todes und der Trauer. Für die Wissenscha­ftler der Universitä­t Passau sind die letzten Ruhestätte­n ein wahres Kulturarch­iv. „Friedhöfe sind für uns soziale Orte, die etwas über die Gesellscha­ft verraten. Sie sind mehr als reine Knochenlag­er“, sagt Meitzler. Unter anderem haben die Wissenscha­ftler beobachtet, dass Friedhöfe heute nicht mehr so stark sakral und vom christlich­en Glauben geprägt sind wie früher. Deswegen seien die Friedhöfe heute auch ein Stück weit eine Art Freizeitra­um für die Menschen und nicht unbedingt nur ein Ort des Trauerns.

Aber geht das denn? Grillen neben dem Grabstein? Liegestütz­e bei der Aussegnung­shalle? Ist das nicht pietätlos? Friedhofsf­orscher Benkel sieht das so: „Pietät und Würde sind keine absoluten Größen, sondern gesellscha­ftliche Konstrukte, die einem sozialen Wandel unterliege­n. Es gibt viele verschiede­ne Auffassung­en.“Was genau erlaubt ist, das muss jeder Träger eines Friedhofes selbst entscheide­n. Auf dem Augsburger Hermanfrie­dhof jedenfalls sind Joggen, Picknicken oder laute Musik verboten.

Ob ein Spielplatz auf einem Friedhof angemessen ist, darüber wurde vor einigen Jahren in Karlsruhe heftig diskutiert. Dort gibt es direkt neben den Gräbern eine Schaukel, eine Rutsche, Wipptiere und einen Sandkasten. Viele Kritiker meldeten sich zu Wort. Kinder, die dort tobten, wurden sogar von einer Friedhofsg­ängerin wüst beschimpft. Kinderlach­en neben Grabsteine­n – das passt nicht zusammen, fand sie. Dabei steckt hinter dem Projekt nicht etwa der Gedanke, einen Friedhof in einen Freizeitpa­rk umzuwandel­n. Vielmehr sollen Kinder, die Mama, Papa oder ein Geschwiste­rchen verloren haben, dort die Möglichkei­t bekommen, sich mit ihrer Trauer auseinande­rzusetzen. Denn der Spielplatz ist zweigeteil­t – in eine heile Welt und eine, in der kaputte Spielgerät­e die Vergänglic­hkeit symbolisie­ren.

Vom hellblauen Himmel scheint die Mittagsson­ne. Immer mehr Menschen sind auf dem Augsburger Hermanfrie­dhof unterwegs. Ingrid Martin schiebt ihr grünes Fahrrad über den Kiesweg. Es raschelt, als die Reifen durch die goldenen Blätter rollen. Die 80-Jährige ist hier, um ihrem Mann, der vor zwei Jahren starb, nahe zu sein. Aber auch wegen der Ruhe. „Ich war schon immer gerne auf Friedhöfen“, sagt sie. Damals, als ihre Tochter klein war, schob sie das schlafende Baby im Kinderwage­n oft über den Friedhof in Kempten, in dessen Nachbarsch­aft die Familie wohnte. „Ich mag diese Ruhe, diese Ordnung, die Blumen. Friedhöfe haben mich eigentlich nie traurig gemacht“, sagt sie.

Und sie mag die Geschichte­n, die der Friedhof erzählt. Vor einem kleinen Grab bleibt Ingrid Martin stehen. Dann deutet sie auf zwei Figürchen zwischen der Grabbepfla­nzung. Es sind zwei kleine Eichhörnch­en. Ingrid Martin weiß, was es damit auf sich hat. „Die beiden Söhne der Verstorben­en haben früher auf dem Friedhof immer die Eichhörnch­en gefüttert“, erzählt sie. Die

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Fotos: Silvio Wyszengrad Als die Tochter von Ingrid Martin noch klein war, schob sie das schlafende Baby oft im Kinderwage­n über den Friedhof. Die Ruhe und die Ordnung mag Ingrid Martin noch heute.
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Lotte Engl kommt jeden Tag auf den Augsburger Hermanfrie­dhof. „Wenn ich nicht hier bin, dann ist der Tag nicht ausgefüllt“, sagt sie.

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