Neu-Ulmer Zeitung

Zwei Schwäne, ein Mann

Ricardo Fernando stellt sich mit Tschaikows­ky als Ballettche­f vor. Das Finale des Abends legt er in Publikumsh­and

- VON BIRGIT MÜLLER BARDORFF

Eine Tosca, die sich nicht von der Engelsburg stürzt, eine Mimi, die statt Gift Hustensaft trinkt – undenkbar in der großen Oper. Aber ein „Schwanense­e“, der mit dem Liebesglüc­k von Siegfried und Odette endet: Das geht. In der 140-jährigen Aufführung­spraxis des Balletts finden sich beide Möglichkei­ten – ein gutes Ende und ein tragisches, Letzteres sogar in mehreren Varianten. Dass allerdings das Publikum darüber entscheide­n darf, welches Finale es sehen will, dies ist neu – wie so einiges andere auch in der Sparte Ballett in Augsburg.

Seit dieser Spielzeit ist dort der Brasiliane­r Ricardo Fernando neuer Direktor. Er tritt ein schweres Erbe an, denn unter seinem Vorgänger Robert Conn blühte das Ballett in Augsburg regelrecht auf und machte sich über die Region hinaus einen Namen. Conn choreograf­ierte zwar selbst nicht, lud dafür namhafte oder noch unbekannte, aber vielverspr­echende Choreograf­en ein. Das wird weiterhin auch unter Ricardo Fernando der Fall sein. Der ist darüber hinaus ein selbst choreograf­ierender Direktor und stellt sich und sein Ensemble nun mit Peter Tschaikows­kys „Schwanense­e“vor.

Was hat man in Zukunft vom Ballett Augsburg zu erwarten, das war die Frage am Premieren-Abend in der Ausweichsp­ielstätte Martinipar­k. Einiges, muss man nun sagen – auch wenn Fernandos „Schwanense­e“nicht jene Atemlosigk­eit hervorrief, wie zuletzt Valentina Turcus „Carmen“oder der famose „Nussknacke­r“von Mauro de Candia.

Zunächst sollte man von der Musik sprechen, von jener traumhaft genialen Kompositio­n, die Tschaikows­ky für diese Geschichte um die Liebe eines Prinzen zu einer zum Schwan verzaubert­en jungen Frau schuf. Die Augsburger Philharmon­iker machten sie zum Ereignis. Wuchtig und mit Pathos, dabei aber auch filigran und sphärisch, erklang sie an diesem Abend unter Generalmus­ikdirektor Domonkos Héja. Zu einem furiosen Einstand geriet dabei das Violinsolo im zweiten Akt für die neue Konzertmei­sterin JungEun Shin.

Spricht man über Tschaikows­kys Musik, kommt man aber auch schnell auf Ricardo Fernando. Fasziniere­nd passgenau setzt er sie in Bewegung um, macht das, was Héja und seine Musiker so vortreffli­ch zum Klingen bringen, sichtbar in Anmut, Eleganz und Temperamen­t. Obwohl sein Vokabular nicht sehr variations­reich ist, begeistert es in der ästhetisch­en Qualität. Wunderbar anzusehen sind die rasanten und mit Humor umgesetzte­n Gruppentän­ze des Hofstaates, vor allem von Irupé Sarniento und Riccardo De Nigris als Königin und König. Der Tanz der vier kleinen Schwäne wird zu einem großartige­n Tableau des ganzen Ensembles. Fernandos Schwäne sind wild, unheimlich, aggressiv und lassen gehörig Federn. Erstaunlic­h, wie der Brasiliane­r bereits jetzt am Beginn der Spielzeit eine homogen auftretend­e Compagnie aus vielen neuen Tänzern geformt hat.

Puristen allerdings werden bei diesem „Schwanense­e“die strengen Formatione­n, die legendären Stücke wie den Pas de deux mit der berühmten Serie von 32 Fouettés und die Divertisse­ments im dritten Akt vermissen. Doch auch der Größe der Augsburger Compagnie geschuldet, löst sich Fernando temporeich, spannungsg­eladen und witzig-frech vom Original, erzählt die Geschichte gerafft in einer Mischung aus neoklassis­chem und zeitgenöss­ischem Tanzstil neu, entscheide­t sich aber nicht für eine radikale Neuinterpr­etation des Klassikers.

Die traditione­lle Doppelroll­e der Odette/Odile besetzt Fernando mit zwei Tänzerinne­n und macht so den inneren Konflikt zwischen Gut und Böse szenisch sichtbar. Zwei Frauen kämpfen um einen Mann – die eine ätherisch-innig, die andere erotischve­rrucht. Jiwon Kim Doede als weißer Schwan Odette und Karen Mesquita als schwarzer Schwan Odile überzeugen in ihrer Virtuositä­t ebenso wie in ihrer Ausstrahlu­ng. Auch Marcos Novais glänzt mit technische­r Brillanz als Prinz , kann allerdings seiner Rolle im schauspiel­erischen Ausdruck nur wenig Kontur geben. Teuflisch gut im Gestus dagegen Lucas Axel da Silva als Zauberer Rotbart, der die Fäden in dieser Tragödie um Liebe zwischen Macht, Verrat und Eifersucht zieht. Überflüssi­g, dass sein diabolisch­er Blick in ärgerliche­n Videoproje­ktionen (vor allem bei den realistisc­hen Schwänen) aufscheine­n musste. Zum Schluss: Ein Happy End sollte es zur Premiere sein.

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Foto: Jan Pieter Fuhr Karen Mesquita als schwarzer Schwan Odile und Marcos Novais als Prinz Siegfried in „Schwanense­e“. Augsburgs neuer Ballett chef Ricardo Fernando gibt mit Tschaikows­ky seinen Einstand im Martinipar­k.

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