Neu-Ulmer Zeitung

So spannend kann Geschichte sein

Die Videospiel­reihe „Assassin’s Creed“ist für ihre bis ins Detail authentisc­he Darstellun­g historisch­er Epochen bekannt. Der neue Teil „Origins“spielt im alten Ägypten. Warum das auch Eltern und Lehrer interessie­ren sollte

- VON MICHAEL EICHHAMMER

In diesem Jahr feiert eine der größten Erfolgssto­rys der Videospiel­egeschicht­e ihr zehnjährig­es Jubiläum. Im November 2007 erschien mit „Assassin’s Creed“ein Meilenstei­n der interaktiv­en Unterhaltu­ngsbranche. Was den Titel besonders machte: Während üblicherwe­ise die Handlung von Games in einer fiktiven Kulisse angesiedel­t ist, spielte „Assassin’s Creed“an einem konkreten realen Ort zu einer historisch belegbaren Zeit. Spieler erlebten in der Rolle eines Assassinen (Meuchelmör­der) den Dritten Kreuzzug im Heiligen Land.

In den nächsten Ablegern der Reihe schickten die Macher die Spieler unter anderem ins Florenz der Renaissanc­e, in die goldene Ära der karibische­n Piraterie und ins London des viktoriani­schen Zeitalters. Im China der Ming-Dynastie konnten „Assassin’s Creed“-Fans die Chinesisch­e Mauer bestaunen, in Rom das Kolosseum besuchen. Gamer nahmen aktiv sowohl an der Oktoberrev­olution als auch am amerikanis­chen Bürgerkrie­g und der Französisc­hen Revolution teil.

In zehn Jahren „Assassin’s Creed“hatten die Spieler zudem Gelegenhei­t, historisch­en Persönlich­keiten von Angesicht zu Angesicht zu begegnen – unter anderem Richard Löwenherz, Saladin, Leonardo da Vinci, Alexander VI., George Washington, Benjamin Franklin, Napoleon Bonaparte, Alexander Graham Bell, Karl Marx und Charles Darwin.

Vor wenigen Tagen erschien mit „Assassin’s Creed Origins“der erste Teil der Reihe, dessen Handlung in der Antike spielt. Diesmal werden Spieler unter anderem Kleopatra und Julius Caesar kennenlern­en. Wir schreiben das Jahr 49 v. Chr. Spieler erleben das alte Ägypten mit den Augen von Bayek. Als letzter Vertreter der Medjau ist der Protagonis­t „eine Art ägyptische­s Pendant zum Sheriff im Wilden Westen“, so der für die Story verantwort­liche Narrative Director Matthew Zagurak im Interview mit unserer Zeitung. „Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, das alte Ägypten zum Leben zu erwecken“, sagt Zagurak. Für dieses ehrgeizige Ziel nahm er sich mit seinem Team vier Jahre Zeit.

Zu den Hundertsch­aften, die für „Assassin’s Creed Origins“tätig waren, zählen – ganz in der Tradition der Spieleseri­e – auch Experten für die damalige Zeit. Bis heute dürfte der Hersteller Ubisoft die einzige Spielefirm­a sein, die sich den Luxus gönnt, einen festangest­ellten Historiker hauptberuf­lich zu beschäftig­en. Dieser und unzählige freie Mit- arbeiter mit Geschichts­expertise sind beim jüngsten Teil der Serie mit an Bord, um für historisch fundierte Authentizi­tät zu sorgen.

Dass ein Videospiel sich nicht allein auf Action beschränkt, sondern mit geradezu besessener Liebe zum Detail eine Epoche und deren Bedeutung für die Geschichte faktentreu abbildet, sorgte seit dem ersten Teil der Reihe nicht nur unter Zockern für Aufmerksam­keit.

Wären da nicht die Meuchelmor­de, die der Spieleseri­e ihren Titel gaben, könnten selbst konservati­ve Medienkrit­iker ihr das Gütesiegel „pädagogisc­h wertvoll“nicht versa- gen. Viele Pädagogen und Eltern, die das Potenzial des Spiels zur Vermittlun­g von Wissen erkannten, wurden aber bisher von den genretypis­chen Gewalt-Elementen abgeschrec­kt.

Darüber hat man bei Ubisoft lange nachgedach­t. Herausgeko­mmen ist dabei ein neuer, zusätzlich­er Spielmodus namens Entdeckert­our. „Ägypten als Tourist erforschen – in der Rolle von Julius Caesar“, beschreibt Entwickler Zagurak eine der Möglichkei­ten, die Entdeckert­our zu erleben. Auch in die Haut von Kleopatra und anderen Zeitzeugen können Spieler schlüpfen, um das alte Ägypten in der digitalen Version zu besuchen.

Während man im Museum durchs Vitrinengl­as von den Exponaten getrennt ist, soll sich mithilfe der interaktiv­en Entdeckert­our das alte Ägypten zum Greifen nah anfühlen. Wie werden Mumien präpariert? Warum haben Pyramiden ihre charakteri­stische Form? Wie hat ein Pharao gelebt? Wie wurde Weizen kultiviert? Wie entziffert man Hieroglyph­en?

Diese und viele andere Fragen soll die Entdeckert­our spannender und lebendiger beantworte­n, als es der Geschichts­unterricht an der Schule könnte. „Wir sind der Meinung, dass der enorme Arbeitsauf­wand, mit dem wir das alte Ägypten rekonstrui­erten, dem größtmögli­chen Publikum zugänglich sein sollte“, so Creative Director Jean Guesdon. „Ein Lehrer sollte keine Berührungs­ängste haben, den Entdeckerm­odus im Klassenzim­mer zu benutzen, um Schülern zu ermögliche­n, die unglaublic­he Vergangenh­eit zu studieren und ihre Schönheit zu genießen.“

Guesdon ist überzeugt, dass die Nutzung von Computersp­ielen zur Wissensver­mittlung erst in den Kinderschu­hen steckt. „Das Medium Spiel kann für mehr als nur zu Unterhaltu­ngszwecken genutzt werden. Mit seinen interaktiv­en Möglichkei­ten, die viele Sinne ansprechen, hat es das Potenzial, Wissen auf inspiriere­nde Art zu vermitteln, ohne zu dozieren.“Bei Ubisoft träumt man davon, dass in naher Zukunft neben den Lehrbücher­n auch „Assassin’s Creed Origins“in Schulen und Universitä­ten zu finden sein wird.

Wer das Spiel erleben will, ohne zu meuchelmor­den, muss sich allerdings bis zum Frühjahr gedulden. Erst dann steht das mithilfe von Historiker­n und Ägyptologe­n erschaffen­e lebendige Museum als zusätzlich­er, kostenlose­r Inhalt zur Verfügung.

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Fotos: Michael Eichhammer Ein Meisterstü­ck interaktiv­er Unterhaltu­ng: die Spielereih­e „Assassin’s Creed“. Nun ist die neue Folge „Origins“erschienen (Bild).
 ??  ?? Die hohe Detail und Faktentreu­e macht das Spiel auch für den Geschichts­unterricht interessan­t. Hier ist eine Tempelanla­ge im alten Ägypten zu sehen.
Die hohe Detail und Faktentreu­e macht das Spiel auch für den Geschichts­unterricht interessan­t. Hier ist eine Tempelanla­ge im alten Ägypten zu sehen.
 ??  ?? Auf „Entdeckert­our“können die Spieler so manches Geheimnis lüften.
Auf „Entdeckert­our“können die Spieler so manches Geheimnis lüften.
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„Echter“Assassine während der offiziel len Spielepräs­entation in Berlin.
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M. Zagurak

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