Über das „Chaos“könnte der Mann stundenlang reden
2016 aber schon 2587 – ein Plus von 20 Prozent. „Da kommt einiges auf uns zu“, sagt einer, von dem noch die Rede sein wird, weil er es wissen muss.
„Schauen Sie sich das an“, sagt erst mal Walter Radtke. Das Vorstandsmitglied in der örtlichen Gruppe des Radklubs ADFC kämpft gegen den Motorenlärm am Allgäuer Ring an. „Ein Chaos ist das.“Dann legt er los, zeigt mal hierhin, mal dorthin, er könnte stundenlang reden. Über den Radweg, auf dem man nur stadteinwärts fahren darf, drüben auf der anderen Seite ist der Weg aber in beide Richtungen frei – obwohl auf dem schmalen Streifen nicht wirklich Platz ist für Gegenverkehr. Oder über den Schilderwald. Die Umlaufsperren, die die Stadt vor ein paar Monaten aufgestellt hat, in der Hoffnung, das Risiko wenigstens etwas zu senken. Weil: Die Fußgänger haben am Zebrastreifen Vorrang, die Radler direkt daneben aber müssen anhalten, „das kapiert doch keiner“, schimpft er.
Radtke fügt gleich hinzu, dass es natürlich auch hier Radl-Rowdys gebe, die die Schilder bewusst ignorieren, das Ganze hier als rechtsfreien Raum betrachten. Im täglichen Kampf – manche sagen „Krieg“– um Vorfahrt, Platz und Geschwindigkeit ist es Realität, dass manche Autofahrer rücksichtslos sind. Und manche Fußgänger unbelehrbar. Und eben manche Radler grob fahrlässig. Dann kracht es und einer verliert, meist der Schwächste. Walter Radtke hat ein großes Herz für das Fahrrad, aber so ein Verhalten geht auch ihm gegen den Strich.
Im bayerischen Innenministerium heißt es, bei fast zwei Drittel aller Unfälle mit Rädern liege die Schuld bei den Radfahrern selbst. Beispielsweise aus Unachtsamkeit heraus, aber eben auch wegen grober Fahrlässigkeit. Dem hält der ADFC entgegen, dass 75 Prozent aller Unfälle zwischen Rädern und Autos von den Autofahrern verursacht würden, und beruft sich dabei auf das Statistische Bundesamt.
In der einen Stunde am Allgäuer Ring geht alles gut. Mit etwas Glück auch für die Radlerin, die mal eben mit Karacho über den Zebrastreifen brettert. Ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, geschweige denn auf das Vorfahrtachten-Schild vor ihrer Nase. Radtke zuckt mit den Schultern.
Es geht ja noch weiter mit den Problemen. An der Ecke mit der Großbaustelle etwa, wo Wohnungen entstehen. Da ist der Radweg mit Baufahrzeugen zugeparkt. Und dann natürlich die vielen Autos. „Eine zweispurige Einfahrt in den Kreisverkehr ist ein Unding. Die Fahrer schauen nach links, aber viele nicht nach rechts.“Und manche fahren mit ordentlich Tempo durch.
Zwei Ausfallstraßen laufen hier zusammen: Ringstraße und Memminger Straße, die wichtigste NordSüd-Achse der Stadt. Auf der einen Seite befinden sich mehrere Schulen, ein Stück weiter die Hochschule und die Ratiopharm-Arena, eine große Veranstaltungshalle. Dazu das Wohn- und Gewerbegebiet, das auf dem Areal einer früheren USKaserne entstanden ist. Auf der anderen Seite des Kreisels kommt schon nach 200 Metern der Einkaufskomplex Glacis-Galerie. Das heißt: Hier ballt sich der Verkehr auf wenigen Metern.
Deshalb gab es hier schon immer Unfälle mit Radlern, erzählt Radtke. Im Schnitt mit etwa zehn Verletzten im Jahr. Mehrfach hat die Stadt versucht, den Kreisel zu entschärfen. Einmal hat man die zweispurigen Einfahrten für Autos einspurig gemacht. Mit dem Ergebnis zunehmender Staus. Also Kommando zurück. Aber Neu-Ulm wächst weiter und damit der Radverkehr, der eh – siehe Erfolgsgeschichte – in Mode ist. Und dann kam dieser verhängnisvolle Unfall im Januar 2016.
„Da drüben ist es passiert“, sagt Radtke und zeigt auf die Ausfahrt in Richtung Osten. Ein 76-jähriger Radler und ein 79-jähriger Autofahrer. Die Kopfverletzungen des Radfahrers waren am Ende zu schwer. Der tödliche Crash hat die Debatte über den Allgäuer Ring neu entfacht. Seitdem gab es weitere Unfälle. Als die Stadt dann die Umlaufsperren aufstellte, blieb auch noch ein Radfahrer darin hängen, stürzte und kugelte sich die Schulter aus.
Nun stehen im Stadtrat drei Umbauvarianten zur Diskussion: ein großer und damit besonders teurer Wurf mit einer räumlichen Trennung der Verkehrsteilnehmer samt Unterführung, eine ampelgesteuerte Kreuzung und drittens Korrekturen bei den Einfahrten plus kleine Verkehrsinseln. Die Varianten müssen nun vor dem Hintergrund der neuen Verkehrsprognose für Ulm/ Neu-Ulm näher betrachtet werden, sagt Stadtsprecherin Sandra Lützel. Die soll demnächst vorgestellt werden. Das Ganze werde also „noch einige Zeit in Anspruch nehmen“.
Im Neu-Ulmer Problem steckt ein Dilemma, das viele Kommunen kennen. Viele Radwege entstanden in einer Zeit, als der Verkehr noch deutlich geringer war, oder mussten in ein bestehendes Straßen- und Gehwegnetz hineingepresst werden. Wo nun im günstigen Fall alle ihren Platz haben, davon aber zu wenig. Oder es gibt gar keinen Radweg und die Radler fahren abwechselnd auf der Straße und auf dem Gehweg.
Nun steigt die Zahl der Radfahrer. Bedeutet: höheres Risiko für alle. Und die heutigen Fahrräder benötigen mehr Platz – die Pedelecs, die herkömmlichen Räder mit Kinder-Anhänger, die zunehmenden Lastenräder. Wie soll da sicheres Fahren auf 1,50 Meter breiten Streifen gehen? Auf der anderen Seite: Der Platz ist begrenzt. Wenn gebaut und gebaut wird: Wer soll das bezahlen? Und gibt es nicht genügend Gehwege, die auch zu schmal sind? Jeder fordert sein Recht – und vergisst dabei gerne den Nebenmann.
Hinzu kommt noch ein Faktor. Sollen wir ihn Schicksal nennen? Das zuschlägt, obwohl kein Verkehrsteilnehmer dem anderen was Böses will. Lkw neben Radler an einer roten Ampel etwa. Jeder auf seiner Spur. Beide bekommen gleichzeitig Grün. Aber der Radler sieht nicht, dass der rechte Blinker des Lastwagens leuchtet. Und der LkwFahrer sieht nicht, dass überhaupt ein Rad neben ihm steht, Stichwort „toter Winkel“. Beide fahren los.
Siegfried Brockmann ist Leiter der Unfallforschung beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. Er sagt: „Die Abbiegeunfälle sind das Hauptproblem.“Weil sie für den Radler oft tödlich enden. Wie im Fall einer 29-Jährigen im September in Augsburg. Oder eines 16-Jährigen Anfang Oktober in Kaufbeuren.