Vor 100 Jahren begann der Traum bereits zu sterben
Schnittpunkt in der Unendlichkeit. Und ein historisches Urteil: Mit dem wirklichen Menschen ist das nicht zu machen, denn die Gleichheit bedeutet das Ende der Freiheit – und wer entscheiden kann, wird diese Macht immer auch zu eigenen Gunsten einsetzen. Beides zusammengenommen könnte man sagen, dass der ewige Traum vom Kommunismus genau vor 100 Jahren begonnen hat zu sterben.
Am 7. November 1917 des heute gültigen gregorianischen Kalenders nämlich eroberten die Kommunisten unter Lenins Führung die Macht in Russland – der Höhepunkt der Oktoberrevolution (weil dort damals noch der julianische Kalender galt, zählte man den 25. Oktober). Zwar ist die folgende Geschichte zunächst machtpolitisch durchaus als Erfolg zu erzählen, denn über 40 Prozent der Welt trug über Jahrzehnte hinweg die Leitfarbe Rot als Zeichen des Antikapitalismus.
Aber die Terrorregime von Stalin, Mao und Pol Pot – was hatte deren Wirklichkeit noch mit den Utopien von einst zu tun? Mit Karl Marx und dessen „Kommunistischem Manifest“, auf das sich alle samt Monumentalbüsten doch beriefen? Oder mit Jesus von Nazareth und dessen Bergpredigt, auf die sich etwa die Anhänger eines religiösen Sozialismus bezogen? So besehen bedeutete nicht erst der ökonomische Bankrott des Sowjetsozialismus den Tod der roten Träume. Moralisch hatte er wohl mit dem staatspolitischen Versuch ihrer Umsetzung zumindest bereits begonnen …
Und doch wächst aus dieser scheinbaren Leerstelle derzeit ein kommunistisch geführtes Land zur mächtigsten Nation heran: das autoritär regierte China mit seiner Mischung aus Planwirtschaft und Turbo-Kapitalismus und einer größeren wirtschaftlichen Ungleichheit im Inneren, als sie etwa die USA aufweisen. Spätestens da wird klar, dass an dem Begriff und den damit verbundenen Erzählungen vieles nicht mehr stimmen kann. Und dass es sich womöglich gerade heute lohnen könnte, in deren Geschichte zu schauen. Wenn schon nicht, um eine echte System-Alternative zu finden, so zumindest doch, um mit den richtigen Lehren etwas in die Leerstelle setzen zu können. Denn gerade mit kapitalistischen Prinzipien auf den Kapitalismus selbst geblickt: Konkurrenz führt auch zur Verbesserung des eigenen Produkts.
Der selbst mal in K-Gruppen aktiv gewesene Frankfurter Historiker Gerd Koenen hat dazu nun genau das richtige Buch geschrieben. Sein weit über tausend Seiten starkes Monumentalwerk „Die Farbe Rot“leuchtet tatsächlich, wie im Untertitel verheißen, „Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“aus. Und schnell wird klar: Die Kopplung sowohl des alten Paradiestraums als auch der Errungenschaften der Französischen Revolution zum Versprechens der Gleichheit aller im Kommunismus – das ist die große Erzählung der späten Kommunisten selbst. Der tatsächliche, bereits theoretische Widerspruch kristallisiert sich etwa in der Person des so hoch verehrten Vordenkers. Karl Marx nämlich hielt gerade von einem solchen „rohen und gedankenlosen Kommunismus“gar nichts (seine Polemiken dagegen wurden übrigens immer wieder provoziert von Kritiken Heinrich Heines in der damals führenden Augsburger Allgemeinen Zeitung). Denn diese Utopien liefen nur auf „die Rückkehr zur unnatürlichen Einfachheit des armen und bedürftigen Menschen“hinaus. Nein, Marx wollte gerade keinen sozialen Egalitarismus, sondern eine echte Leistungsgesellschaft, die Ungleichheit sogar braucht, aber eben nicht aufgrund von angehäuftem Privatkapital, Zinsen und Grundbesitz.
Wie wenig das, was später Lenin Kommunismus taufte, mit Marx zu tun hat, zeigt sich auch daran, dass der Politiker den Einzelnen unters jeden gleich kleinhaltende Joch des vermeintlichen Volkswillens zwängte, während der Vordenker auf die Entwicklung des Ganzen durch die individuelle Entwicklung des Einzelnen setzte. Und während Marx meinte, der Geschichte einen künftigen Gang einschreiben zu können, wurde bei Lenin die Politik zur Durchsetzung eines notwendigen Gangs der Geschichte.
Diese Umdeutung nach vorne