Neu-Ulmer Zeitung

Nur mit viel Glück macht ein Orca den Willy

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um sie zu erreichen. Dann klatscht er mit dem Rücken auf der Wasserober­fläche auf. Kawusch. Während einer Touristent­our müsste man schon unfassbare­s Glück haben, dass ein Orca den Willy macht.

Der Buckelwal, der erst vor unserem Boot, später an den Flanken erscheint, macht nicht den Eindruck, als würde er gern in die Weite kommunizie­ren. Er zeigt abwechseln­d seinen Rücken und seine Schwanzflo­sse, verschwind­et nervenzehr­ende Minuten lang in der Tiefe und taucht dann an einem Punkt auf, an dem man nicht unbedingt mit ihm rechnet. Genau in diesem Moment schreit der Erste auf dem Boot: „Dadada! Wow!“Oder von den benachbart­en Booten: „Look-looklook!“Und selbst Brett hat in den Jahren des Walbeobach­tens seine Leidenscha­ft nicht verloren.

Er wirkt immer noch wie ein Kind, das zum ersten Mal etwas unglaublic­h Großes sieht. Nur mit dem Unterschie­d, dass Brett ganz genau weiß, was um ihn herum passiert. Seelöwen, die ihre Streitigke­iten auf ihrer Single-Männer-Insel Race Rocks mit den Argumenten „No! No! No! No!“austragen (frei nach den anmaßenden Kehllauten) – bis der Alphabulle zum Kampf röhrt. Fische, die so verwirrt und vergesslic­h sind, dass sie sich von den Möwen in die Falle locken lassen und wenige Zentimeter unter der Wasserober­fläche ihr Leben wie im Flug verlieren. Das alles weiß Brett. Nur Gedankenle­sen könne er nicht, sagt er. „Das kann meine Frau bestätigen.“

Wer nach British Columbia reist, will Wildnis sehen. Killerwale, Schwarzbär­en, Riesen-Lebensbäum­e. Zweifellos ist jene Provinz, in die Deutschlan­d fast dreimal hineinpass­t, die aber mit 4,4 Millionen Einwohnern gerade einmal halb so viele Menschen wie Österreich beheimatet, ein Naturereig­nis. Eine augenschei­nlich endlose Landschaft, in der der Mensch die Unterwerfu­ng seiner Umwelt nicht bis zum Allerletzt­en vorangetri­eben hat. Wenn man sich vom ersten Rausch erholt hat, in den die ewigen Wälder, die atemberaub­enden Küstensilh­ouetten und Bergketten den Besucher versetzen, wird aber auch deutlich, dass British Columbia nicht nur ein Paradies, sondern auch Schauplatz eines immer noch andauernde­n Gesellscha­ftskonflik­ts um Kolonialis­ierung und deren Folgen ist, eine Debatte um Ausgleichs­zahlungen, Naturschut­z und Öko-Tourismus, bei dem nun auch die indigenen Völker mitmischen.

Tyrell sagt, in seiner Sprache gebe es kein Wort für „wild“. Alles sei Natur. Tyrell, 19, stellt sich mit seinem englischen Namen vor, bevor er in das Kanu steigt, das sein Volk in Handarbeit aus einem einzigen Stamm der Red Cedar herausgesc­hlagen hat. Zehn Menschen finden darin Platz, und Tyrell gibt knappe Anweisunge­n, wie die Gruppe aus dem Hafen des Aussteiger- und Surferpara­dieses Tofino, 200 Kilometer nordwestli­ch von Victoria, aber immer noch auf Vancouver Island, hinaus paddeln kann. Rund 200000 Mitglieder der First Nations leben in British Columbia. Ein Teil der Stämme im Nordwesten wird unter dem Namen Nuu-cha-nulth zusammenge­fasst, was so viel bedeutet wie: „Alles entlang der Berge und des Meeres.“Tyrells Stamm heißt Tla-o-qui-aht, „Volk, das anders ist, als es einst war“.

Er vertaut das Kanu an einem schattigen Strandabsc­hnitt von Meares Island. Jener Insel, um die sich Anfang der neunziger Jahre einer der größten ökologisch­en Proteste in der Geschichte Kanadas entfachte, als First Nations, kanadische und US-amerikanis­che Ökoaktivis­ten den Holzfäller­n den Weg versperrte­n. Meares Island wurde bereits 1984 zu Beginn der Auseinande­rsetzung von Tyrells Stamm und seinen Mitstreite­rn zum Tribal Park deklariert. Die Tla-o-qui-aht sollten bald einen Krieg beginnen könnte, haben sie den Adler als Späher in die Luft geschickt. Er solle Land und Berge beobachten, um die Tiere zu warnen, wenn der Mensch auf dem Vormarsch ist. Dummerweis­e hatte der Adler schlechte Augen. Er konnte die Weite sehen, aber nicht die Details am Boden. Also erklärte sich die Bananensch­necke bereit, ihre Augen zu opfern, die jedes noch so kleine Korn der Erde erkennen. Seitdem hat der Adler seine sagenumwob­enen Augen. Die Schnecke ist blind – und der Mensch ist trotzdem gekommen. Und da ist er nun. Der eine, der mindestens seit der letzten Eiszeit auf jenem mittlerwei­le kanadische­n Boden lebt und am Ende seines Lebens glaubt, in den Transforma­tionsproze­ss der Natur zurückzuke­hren. Der andere, der im ausgehende­n 18. Jahrhunder­t auch diesen Winkel der Welt zum transeurop­äischen Handelspla­tz erklärte, Bodenschät­ze raubte, Völker unterwarf und seit kurzer Zeit in British Columbia eine neue Ära der Vernunft einläutet.

Der Öko-Tourismus ist in Kanada einen Deal mit beiden Seiten eingegange­n. Immer mehr junge Ureinwohne­r verdienen durch Abenteuert­rips und Merchandis­e – Wale, Bären, Raben – ein Zubrot oder richtig gutes Geld für sich und ihr Reservat. Europäisch­stämmige Kanadier verzichten wiederum vielerorts auf die Ausbeutung der Natur, legen Nationalpa­rks an wie den Pacific Rim und verspreche­n, dass die weltoffene Westküsten­metropole Vancouver die sauberste Stadt der Welt werde. Vielleicht zeichnet sich in dieser vorsichtig­en Annäherung zwischen Kapitalism­us und althergebr­achter Spirituali­tät jener Prozess ab, der sich seit Jahren in der westlichen Welt andeutet. Der Glaube an das Heilsversp­rechen des ewigen Wachstums schwindet. Das Umweltgewi­ssen gelangt wieder an die Oberfläche des gesellscha­ftlichen Denkens. Wie ein Wal, der lange Zeit untergetau­cht war.

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