Neu-Ulmer Zeitung

Theodor Storm: Der Schimmelre­iter (35)

- Er ist interessie­rt, fleißig, begabt. Er liebt Elke, und mit Geduld und Geschick wird sie seine Frau. Hauke Haien aus Nordfries land stehen Erfolg, Glück und gesellscha­ftlicher Verdienst zur Seite. Doch dann wendet sich das Schicksal gegen ihn… Projekt Gu

Freilich, die Wirtschaft­erin unseres Deichgrafe­n würde sie Ihnen anders erzählt haben; denn auch das weiß man zu berichten: jenes weiße Pferdsgeri­ppe ist nach der Flut wiederum, wie vormals, im Mondschein auf Jevershall­ig zu sehen gewesen; das ganze Dorf will es gesehen haben. Soviel ist sicher: Hauke Haien mit Weib und Kind ging unter in dieser Flut; nicht einmal ihre Grabstätte hab ich droben auf dem Kirchhof finden können; die toten Körper werden von dem abströmend­en Wasser durch den Bruch ins Meer hinausgetr­ieben und auf dessen Grunde allmählich in ihre Urbestandt­eile aufgelöst sein – so haben sie Ruhe vor den Menschen gehabt. Aber der Hauke-HaienDeich steht noch jetzt nach hundert Jahren, und wenn Sie morgen nach der Stadt reiten und die halbe Stunde Umweg nicht scheuen wollen, so werden Sie ihn unter den Hufen Ihres Pferdes haben.

Der Dank, den einstmals Jewe Manners bei den Enkeln seinem Erbauer versproche­n hatte, ist, wie Sie gesehen haben, ausgeblieb­en; denn so ist es, Herr: dem Sokrates gaben sie ein Gift zu trinken, und unsern Herrn Christus schlugen sie an das Kreuz! Das geht in den letzten Zeiten nicht mehr so leicht; aber – einen Gewaltsmen­schen oder einen bösen stiernacki­gen Pfaffen zum Heiligen oder einen tüchtigen Kerl, nur weil er uns um Kopfesläng­e überwachse­n war, zum Spuk und Nachtgespe­nst zu machen – das geht noch alle Tage.“

Als das ernsthafte Männlein das gesagt hatte, stand es auf und horchte nach draußen. „Es ist dort etwas anders worden“, sagte er und zog die Wolldecke vom Fenster; es war heller Mondschein. „Seht nur“, fuhr er fort, „dort kommen die Gevollmäch­tigten zurück; aber sie zerstreuen sich, sie gehen nach Hause; – drüben am andern Ufer muß ein Bruch geschehen sein; das Wasser ist gefallen.“

Ich blickte neben ihm hinaus; die Fenster hier oben lagen über dem Rand des Deiches; es war, wie er gesagt hatte. Ich nahm mein Glas und trank den Rest. „Haben Sie Dank für diesen Abend!“sagte ich; „ich denk, wir können ruhig schlafen!“

„Das können wir“, entgegnete der kleine Herr; „ich wünsche von Herzen eine wohlschlaf­ende Nacht!“

Beim Hinabgehen traf ich unten auf dem Flur den Deichgrafe­n; er wollte noch eine Karte, die er in der Schenkstub­e gelassen hatte, mit nach Hause nehmen. „Alles vorüber!“sagte er. „Aber unser Schulmeist­er hat Ihnen wohl schön was weisgemach­t; er gehört zu den Aufklärern!“

„Er scheint Mann!“

„Ja, ja, gewiß; aber Sie können Ihren eigenen Augen doch nicht mißtrauen; und drüben an der andern Seite, ich sagte es ja voraus, ist der Deich gebrochen!“

Ich zuckte die Achseln: „Das muß beschlafen werden! Gute Nacht, Herr Deichgraf!“Er lachte: „Gute Nacht!“Am andern Morgen, beim goldensten Sonnenlich­te, das über einer weiten Verwüstung aufgegange­n war, ritt ich über den Hauke-HaienDeich zur Stadt hinunter. ein

ENDE

verständig­er Am 5. Oktober dieses Jahres ist ihm der Literatur-Nobelpreis 2017 zuerkannt worden; vom morgigen Freitag an bringt unsere Zeitung seinen Roman „Alles, was wir geben mussten“in Fortsetzun­g: Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, seit Jahrzehnte­n aber britischer Staatsange­höriger. Die Schwedisch­e Akademie hatte ihn als einen Autoren ausgezeich­net, der mit „starker emotionale­r Wirkung den Abgrund in unserer vermeintli­chen WeltVerbun­denheit aufgedeckt hat“. In dem von uns nun abgedruckt­en Roman wird das Zeile für Zeile nachzulese­n sein.

„Alles, was wir geben mussten“(2005) ist ein Thriller und ein Science-Fiction-Roman, vielfach prämiert und aufgrund seines starken tragischen Plots auch schon 2010 mit Carey Mulligan, Keira Knightly und Andrew Garfield verfilmt. Im Mittelpunk­t steht ein jugendlich­es Trio, zwei Mädchen, ein Junge, die in einem englischen Internat mit den Emotionen einer Dreiecksve­rbindung – und bei scheinbar guter Betreuung – aufwachsen. Doch im Hintergrun­d steht ein perfides System: Die Kinder und Jugendlich­en des Internats werden aufgezogen, damit ihnen im jungen Erwachsene­nalter Körperorga­ne entnommen werden können, um das Leben anderer Menschen zu verlängern.

Ihre Bestimmung, ihren Lebenszwec­k erfahren die Internatss­chüler nach und nach, immer zu einem Entwicklun­gszeitpunk­t, wenn sie die volle Tragweite des Nutzungspr­inzips ihrer Körper noch nicht wirklich einschätze­n können – und immer positiv verbrämt: Sie werden nicht sterben, sondern ihr Leben „vollenden“.

Plötzlich taucht im Internat die Kunde auf, Liebespaar­e könnten den Zeitpunkt der Erstspende um drei Jahre hinauszöge­rn, wenn sie ihre Zuneigung belegen können… Gibt es den Aufschub oder gibt es ihn nicht? Tommy und Kathy versuchen, ihn zu erreichen. O

Alles, was wir geben mussten, Wilhelm Heyne Verlag Mün chen, in der Verlagsgru­ppe Random Hou se GmbH, Übersetzun­g: Barbara Scha den

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Foto: dpa Kazuo Ishiguro kurz nach Zuerkennun­g des Literatur Nobelpreis­es.

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