Neu-Ulmer Zeitung

Der Apotheker, der mit dem Leben spielte

Ein 47-Jähriger soll aus Geldgier zehntausen­de Krebsmedik­amente gepanscht haben. Jetzt steht er vor Gericht, unter anderem wegen Betrugs. Viel wichtiger aber ist die Frage: Ist dieser Mann verantwort­lich für den Tod vieler Menschen?

- VON STEFAN WETTE, KAI SÜSELBECK, MATTHIAS DÜNGELHOFF, ANNIKA FISCHER UND ANDREAS FREI

Zum Beispiel Andrea. Sie starb im Hospiz. Mit 50 Jahren, wenige Wochen, bevor Peter S. verhaftet wurde. Die Familie hat am Jahrestag ihres Todes eine Erinnerung­sanzeige in der Zeitung veröffentl­icht. Aus den Worten spricht tiefe Verbitteru­ng: „Unserer ’Drea konnte keiner mehr helfen.“

Peter S. hätte ihr helfen können. Vielleicht. Wer weiß das schon bei einer Krebserkra­nkung. Zumindest hätte er seinen Teil dazu beitragen können, das ist ja sein Job als Apotheker. Erst recht als Betreiber einer Onkologie-Schwerpunk­tapotheke, was er damals war. Davon gibt es an die 200 in Deutschlan­d. Ein Schwerpunk­t-Apotheker kauft die für eine Therapie nötigen Wirkstoffe ein, mixt je nach Verordnung ein individuel­les Präparat zusammen und liefert es ans Krankenhau­s oder an einen niedergela­ssenen Arzt. Die Kosten rechnet er dann mit der Krankenkas­se ab; die zahlt noch was drauf, das ist dann sein Gewinn.

Peter S. besaß eine solche Lizenz dafür, Krebsmedik­amente, vor allem Chemothera­pien, herzustell­en. Nur: Wenn das alles stimmt, was die Staatsanwa­ltschaft ihm heute vorwirft, dann hat er seinen Job auf übelste Art und Weise missbrauch­t. Und wäre verantwort­lich für einen der größten Medizinska­ndale der deutschen Nachkriegs­geschichte.

Dieser Mann, 47, in seiner Heimatstad­t Bottrop im Ruhrgebiet Betrug. Schaden für die Krankenkas­sen: rund 56 Millionen Euro, die sich Peter S. in die eigene Tasche gesteckt haben soll. Das ist, wenn man so will, der eher unemotiona­le Teil seines Vergehens, wenn es ihm denn nachgewies­en wird.

Was diesen Fall aber so unfassbar macht, ist das Leid, das er, nach allem, was man bislang weiß, damit angerichte­t hat. Peter S. hat dutzende Ärzte in fünf Bundesländ­ern beliefert; Bayern soll nach bisherigen Erkenntnis­sen nicht darunter gewesen sein. Laut Anklage erhielt eine „niedrige vierstelli­ge Zahl von Patienten“seine Mittel. Medienberi­chten zufolge könnten es mehr als 4000 sein. Es sieht also so aus, dass teils schwer Krebskrank­en Chemothera­pien oder andere Medikament­e verabreich­t wurden, die kaum oder gar keine Wirkung zeigten.

Heißt dies nun, dass Peter S. womöglich für unzählige Todesfälle verantwort­lich ist? Kann man ihm ein Tötungsdel­ikt anlasten? Es ist ja tatsächlic­h so, dass seitdem viele der Patienten gestorben sind.

Genau hier steckt die Schwierigk­eit in dem Verfahren. In den allermeist­en Fällen wird man dem Angeklagte­n nicht nachweisen können, wem er welchen Schaden zugefügt hat. Peter S. soll teilweise auch korrekt dosierte Medikament­e ausgeliefe­rt haben. Aber die sind genauso wie die gepanschte­n längst verbraucht und die Infusionsb­eutel vernichtet. Wie will man also im Nachhinein die Arzneimitt­el den Patienten zuordnen?

Ausnahme gibt es allerdings. Die Ermittler haben bei einer Razzia 116 fertige Medikament­e sichergest­ellt, die noch nicht verschickt worden waren. 27 davon soll Peter S. hergestell­t haben. Die wurden untersucht. Ergebnis: Zu einem Großteil enthielten sie zu wenige oder gar keine Wirkstoffe. Für die Anklage bedeutet dies also auch 27 Fälle von versuchter Körperverl­etzung. Weil der Verstoß gegen das Arzneimitt­elgesetz und der Betrug nicht moralisch, aber rechtlich betrachtet die schwerwieg­enderen Delikte sind, findet der Prozess in Essen vor einer Wirtschaft­sstrafkamm­er statt.

Für die Krebspatie­nten, die noch am Leben sind, ist dies alles ein Albtraum. Sie hatten ihre Hoffnung in ein Medikament gelegt, das sie retten sollte, und waren am Boden zerstört, als sie spürten, dass es nicht anschlug. Im Gegenteil, bei manchen nahmen die Beschwerde­n sogar zu und die Tumormarke­r stiecher gen statt zu fallen. Nun diese unglaublic­he Geschichte. Hätte sie verhindert werden können? Fest steht, schon 2013 gab es einen Verdacht gegen S. Aber die Ermittlung­en wurden eingestell­t. Die Sprecherin der Staatsanwa­ltschaft sagt: „Aus heutiger Sicht ist natürlich der Verlauf des damaligen Verfahrens als bedauerlic­h zu bezeichnen.“

Eine 73-Jährige aus Gladbeck, die ungenannt bleiben will, weiß aus der Anklagesch­rift, dass ihre Krebsmedik­amente zu wenige Wirkstoffe enthielten. Sie wird als Nebenkläge­rin auftreten, als eine von neun, auch wenn sie wegen „des ganzen Trubels“nicht persönlich erscheinen will. Ihr Anwalt Hans Reinhardt sagt: „Sie vermisst, dass der Apotheker zur Aufklärung beiträgt. Das findet sie besonders verwerflic­h.“In der Tat schweigt Peter S. bislang zu den Vorwürfen. Unmittelba­r vor Prozessbeg­inn sagt Peter Strüwe, einer seiner vier VerteidiEi­ne ger: „Im Moment geben wir keine Erklärung ab.“Was am Montag geschehen wird, lässt er offen.

In der Stadt mit ihren knapp 120 000 Einwohnern ist die Erschütter­ung über den Fall seit vielen Monaten greifbar. „Es gibt kaum einen Menschen in Bottrop, der nicht das eine oder andere Opfer persönlich kennt“, sagt Gesundheit­sdezernent Willi Loeven. Heike Benedetti, die an Brustkrebs leidet, versucht die Betroffenh­eit zu bündeln. Zweimal schon hat sie Demonstrat­ionen organisier­t, direkt vor der Apotheke in der Innenstadt – dem „Tatort“, wenn man so will. Die dritte soll zwei Tage nach dem Prozessbeg­inn stattfinde­n. Während ihrer Behandlung hat sie sich mit anderen Patientinn­en angefreund­et. Alle erhielten ihre Medikament­e aus der Apotheke von Peter S. Von zehn Frauen leben noch fünf.

Bei einer der Demos trägt eine Frau ein Schild um den Hals, auf dem steht: „Meine Mutter ist tot. Peter, welches Recht hattest du, Gott zu spielen?“Und auf kriminelle Weise ein Millionenv­ermögen anzuhäufen. Zumindest erklärt es sich nun, wie der geschieden­e Mann sich im Stadtteil Kirchhelle­n eine Villa leisten konnte, die er allein mit seinem Hund bewohnt – mitsamt Wasserruts­che, so berichten Medien, die ihm den Weg vom Badezimmer direkt in den Swimmingpo­ol erleichter­t. So wirklich passt der kantige, an einen Bunker erinnernde Bau nicht in die ländliche Gegend, in Nachbarsch­aft eines alten Fachwerkha­uses. Rund zehn Millionen Euro soll er dafür bezahlt haben.

Was die Menschen in Bottrop noch viel mehr umtreibt, ist, dass Peter S. in der Stadt ein bekannter Mann ist. Er hat die Apotheke von seinen Eltern übernommen, ein Familienun­ternehmen seit Jahrzehnte­n. Er beschenkte den Oberbürger­meister mit einem Kunstwerk, investiert­e Geld in Projekte, die die Stadt nicht finanziere­n konnte, trat sogar als Wohltäter auf, indem er für ein Hospiz sammelte. Ein Hospiz für Krebskrank­e. Warum sollte man einem solchen Mann misstrauen?

Irgendwann dann doch. Zumindest Martin Porwoll. Es war ein Abend kurz nach Karneval, als er zum „Verräter“wurde. „Whistleblo­wer“sagt man heute: einer, der „etwas auffliegen lässt“, oder noch direkter: der jemanden „verpfeift“. Eigentlich hatte Porwoll nichts weiter getan als gerechnet, lange nach Feierabend, und dann war es, „als ob ein Fallbeil runterfäll­t“, „Hurra!“und „Scheiße!“zugleich. Die Rezepte in der Apotheke, deren kaufmännis­cher Leiter er war, passten nicht zusammen mit den abgerechne­ten Wirkstoffe­n. Also doch!

Porwoll, 46, dachte mit pochendem Herzen an seinen Chef: „Du kamst dir so schlau vor, aber jetzt habe ich dich erwischt.“Er dachte aber auch an die Konsequenz­en: daran, dass er seine Arbeit verlieren würde, an die Kollegen in der Apotheke, wo sie wie eine Familie waren. Es war Entsetzen und Genugtuung zugleich. Aber es gab keinen Weg zurück: „Wenn, dann richtig“,

 ?? Fotos: Fabian Strauch, Funke Foto Services ?? Der Skandal lässt Bottrop nicht los. Einwohner bei einem Protestmar­sch durch die Stadt, vorbei an der Apotheke, die Peter S. gehörte.
Fotos: Fabian Strauch, Funke Foto Services Der Skandal lässt Bottrop nicht los. Einwohner bei einem Protestmar­sch durch die Stadt, vorbei an der Apotheke, die Peter S. gehörte.
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„Wenn, dann richtig“: Martin Porwoll sagte gegen seinen Chef Peter S. aus.
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