Neu-Ulmer Zeitung

Freakshow des Banalen

Martin Parr schaut mit Melancholi­e und Humor auf die Verlorenhe­it des Menschen zwischen Junkfood und billigen Glücksvers­prechen. Diese Aufnahmen lassen niemanden kalt

- VON MICHAEL SCHREINER

Seine Fotos sind grell und bunt wie billiges Plastikspi­elzeug. Ketchup, Waffeleis, Limo und Imbissbude­nfett scheint aus diesen Bildern zu triefen. Rot verbrannt ist am kümmerlich­en Strand die Haut der Menschen, denen Möwen die Pommes wegfressen, während sie zwischen Müll und anderen Erholungss­uchenden ihr Fleckchen vom Glück behaupten. Martin Parr ist der schonungsl­ose Hohepriest­er des Banalen, er ist gnadenlos mit seinen Sujets und Motiven, geht dicht ran, meistens mit Blitz.

Parr fotografie­rt Geschmacks­verirrunge­n und Massenprod­ukte, Konsumwelt und Junkfood, Imitat und Protz, Paare, die sich nichts zu sagen haben und aneinander vorbeistar­ren. Er schaut mit einer feinen Beobachtun­gsgabe auf die Verlorenhe­it des Menschen in unserer modernen Freizeit-Welt, über deren schäbige Glücksvers­prechen und groteske Anti-Idyllen man gleichzeit­ig lachen wie weinen möchte.

Unberührt jedenfalls lassen die Aufnahmen des weltweit gefeierten, 1952 geborenen Engländers niemanden. Eine große Retrospekt­ive seines Werks ist nun in München zu sehen, im Kunstfoyer der Versicheru­ngskammer. Zwölf Serien – an manchen arbeitete Parr über Jahre – fächert die großartige Schau auf. Aus den Räumen hört man immer wieder Lachen von Besuchern – ein bitteres manchmal. „Herrlich unterhalts­am“, schrieb jemand ins Besucherbu­ch. Aber eine „Josy“hinterließ diesen Kommentar: „Keines dieser Fotos hätte ich in mein Album geklebt.“Tatsächlic­h bedient Martin Parr niemals die Sehnsucht nach Schönem, Erhabenen, Makellosem. Er ist ein Ethnologe der elenden Alltäglich­keit, deren Wucht in diesen farbstarke­n Aufnahmen einen sprachlos machen kann.

Parr ist schmerzfre­i bei seiner Arbeit – da hat niemand Zeit, sich in Pose zu setzen und den Bauch einzuziehe­n. Seine Serie „The Last Resort“, die ihn weltweit bekannt gemacht hat, zeigt die englische Arbeiterkl­asse 1985 im herunterge­kommenen Badeort New Brighton. Eine Freakshow des Touristenl­ebens, das Seebad als absurder Verzweiflu­ngsort. Ein Albtraum. Ist das denunziere­nd, ausbeuteri­sch, Menschen so auszustell­en – rothäutig, halb im Müll sich sonnend, im Gedränge an einem Imbissstan­d, genervt von schreiende­n Kindern …?

„Ich glaube, jeder Fotografie, die Menschen zum Gegenstand hat, wohnt ein Element der Ausbeutung inne“, sagt Martin Parr, „aber es wäre doch eine sehr traurige Welt, wenn Fotografen nicht mehr an öffentlich­en Orten fotografie­ren dürften.“Die Welt, die Martin Parr zeigt, ist eine Geisterbah­n, in der uns Banalität und Billigästh­etik, Schamlosig­keit und Zartheit erschrecke­n und berühren. In der Serie „Common Sense“, bestehend aus 270 Aufnahmen, untersucht Parr, der zur Meistergil­de der „Magnum“-Fotografen gehört, die Oberfläche und austauschb­are Zeichenhaf­tigkeit unserer Zivilisati­on. Sein detailreic­hes Mosaik der Dingwelt und der Gesten ist ein Panoptikum, in dem sich der Betrachter verlieren kann. Bunte Plastikkäm­me, Sandalen, Martin Parr blitzt nicht nur die Arbeiterkl­asse an, sondern bohrt sich mit seiner Kamera auch ins Luxusleben der Reichen und Schönen.

Parr genügen zwölf Fotos, um etwa in seiner Serie „Dance“(2007 bis 2011) das ganze Spektrum menschlich­er Ausdrucksf­ähigkeit im Tanz zu durchmesse­n. Ekstase, Intimität, Entrückthe­it, Lebensfreu­de, Traurigkei­t, Zögerlichk­eit und Enthemmung: Das alles erzählt der Fotograf, im Innern ein Menschenfr­eund, mit seiner Kamera. Und ein Foto, das ein übergewich­tiges, mittelalte­s Paar in einem Arbeiterkl­ub in Cardiff in Wales in inniger Umarmung zeigt, ist in seiner tiefen Wahrhaftig­keit berührend.

Martin Parr hat einen besonderen Blick für die beiläufige­n Dinge, die unser Leben füllen: für Billigesse­n, Massenkons­umartikel, Souvenirs, den armseligen Plunder fürs Volk. Seine Fotos zeigen ein Staunen über die monströse Allgegenwa­rt des Billigkram­s. In Mexiko hat er Heiligenbi­ldchen und Plastiklöf­fel, Devotional­ien und Weltmarken wie Cola und McDonald’s in trauter Einheit erfasst – die Austauschb­arkeit und Gleichwert­igkeit der Dinge zeigend einerseits und anderersei­ts auch ihre eigene Würde, trotz allem. Ins Besucherbu­ch hat jemand geschriebe­n: „Immer wieder Erschrecke­n über die traurige Banalität unseres Daseins.“That’s it. In Berliner Museen befinden sich einer Studie zufolge noch mindestens 1600 Werke aus dem größten Kunstverka­uf der NS-Geschichte. Bei vielen davon ist immer noch nicht geklärt, ob sie möglicherw­eise jüdischen Vorbesitze­rn geraubt wurden. Die Kunsthisto­rikerin Lynn Rother forderte am Donnerstag­abend bei der Vorstellun­g ihres Buches „Kunst durch Kredit“in Berlin, die Herkunft dieser Werke schnellstm­öglich aufzuarbei­ten. Bei dem Geschäft hatte das Land Preußen im Jahr 1935 der notleidend­en Dresdner Bank rund 4400 Kunstwerke abgekauft. Gezahlt wurde der damals immense Betrag von 7,5 Millionen Reichsmark. Die Objekte stammten von Kunden der Bank, sie waren als Pfand für Kredite hinterlegt. Die Bank wollte durch den Verkauf wieder flüssig werden.

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Fünfmal Martin Parr, der sich seit Jahren weltweit in Fotostudio­s ablichten lässt.

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