Die Nacht der Taktiker
Heute muss eine Entscheidung fallen. Tief in der Nacht werden die Parteichefs ein Paket für ein Bündnis schnüren. Doch ihre Ausgangslagen könnten unterschiedlicher nicht sein
Ob eine Jamaika-Koalition zustande kommt oder nicht, ist vor der alles entscheidenden „Nacht der langen Messer“völlig offen. Die Entscheidung, das gehört zum Ritual, fällt nicht in der großen Runde, sondern tief in der Nacht auf morgen im kleinen Kreis der acht Verhandlungsführer. Wenn alle Argumente ausgetauscht sind, werden sie sich zurückziehen, um ein großes Kompromisspaket zu schnüren. Wer verfolgt dabei welche Taktik? weisen müssen. So sind Merkels Fähigkeiten als Moderatorin und Vermittlerin gefragt, um die Differenzen im Einzelgespräch, dem sogenannten Beichtstuhlverfahren, so weit herunterzudimmen, dass sie nicht mehr unüberbrückbar sind. Der CDU reicht das Minimalziel, das mittlerweile fast schon das Maximalziel darstellt: Jamaika muss kommen, damit Merkel Kanzlerin bleibt und die Union auch die nächste Regierung stellt.
Wären die Schwesterparteien wirkliche Schwestern, würden sie in den Sondierungen gemeinsam an einem Strick ziehen, geschlossen auftreten und den Kleinen mit einer abgestimmten Position gegenübertreten. Doch zwischen CDU und CSU liegen mittlerweile Welten in der inhaltlichen Ausrichtung. Bei den Sondierungen zeigt sich immer wieder, wie brüchig der im Wahlkampf mühsam geschlossene Burgfrieden ist. Gemeinsam kämpfen CSU und FDP gegen zu viel Grün in der Koalition und gegen eine schwarz-grüne Dominanz. Gleichzeitig strahlt der in München ausgetragene innerparteiliche Machtkampf um die Nachfolge von Horst Seehofer bis nach Berlin. In der CSU führt Landesgruppenchef Alexander Dobrindt das große Wort und präsentiert sich als der neue starke Mann, Seehofer lässt ihn gewähren. Dabei braucht auch Seehofer einen Erfolg, mit leeren Händen kann er nicht nach München kommen. Am Ende dürfte Jamaika an der CSU allerdings nicht scheitern – wenn die weiß-blaue Staatspartei eines weder kann noch will, dann ist dies Opposition.
Es wäre die Krönung seiner Arbeit an der Spitze der FDP: Nachdem Christian Lindner die Liberalen, die nach dem Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde vor vier Jahren am Boden lagen, wieder in den Bundestag geführt hat, hätte er sie auf Anhieb auch wieder zur Regierungspartei gemacht. Doch der FDP-Chef, der stets gemeinsam mit seinem Stellvertreter Wolfgang Kubicki auftritt, stapelt tief und gibt sich gelassen. Die FDP müsse nicht um jeden Preis regieren, sagt er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, sie könne auch Opposition und habe keine Angst vor Neuwahlen. Tatsächlich fürchtet Lindner, dass seine Liberalen nur zum Anhängsel einer schwarz-grünen Regierung werden könnten und seine Partei, wie in der Koalition mit der Union zwischen 2009 und 2013, von Angela Merkel an den Rand gedrängt und nicht ernst genommen werde. Dieses Trauma sitzt bei den Liberalen tief. Ob der smarte FDP-Chef allerdings das Risiko auf sich nimmt, in der Stunde der Entscheidung die Verantwortung für das Scheitern der Sondierung auf sich zu nehmen, darf bezweifelt werden.
Die Angst der Liberalen haben auch die Grünen. Auch in der Öko-Partei ist die Sorge groß, in einer Jamaika-Koalition von Union und FDP marginalisiert zu werden und nur als Mehrheitsbeschaffer dienen zu müssen, ohne inhaltlich Akzente setzen zu können. Um das zu verhindern, pochen die beiden Spitzenkandidaten darauf, dass alle Fragen möglichst exakt geregelt werden, um mögliche Auseinandersetzungen zu verhindern. Das aber geht vor allem der Union zu weit. Auch wenn der Führungsanspruch der beiden „Realos“Özdemir und Göring-Eckardt von niemandem in der Partei bestritten wird, achten doch die „Fundis“, angeführt von Jürgen Trittin, sorgsam darauf, dass ur-grüne Positionen in der Asylund Umweltpolitik nicht auf dem Altar der Koalition geopfert werden. Das schränkt den Spielraum der Verhandlungsführer ein. Zudem muss ein Parteitag dem Sondierungsergebnis zustimmen. Das wiederum erhöht den Druck auf Union und FDP. Denn sollte die grüne Basis am 25. November den Daumen senken, war alles umsonst.
Altbundeskanzler Gerhard Schröder gibt einer Koalition von Union, FDP und Grünen, auch wenn sie zustande kommt, nach heutigem Stand kaum mehr als ein Jahr Regierungszeit. „Wenn Jamaika dazu führt, dass die CSU bei der Landtagswahl in Bayern die Mehrheit verliert, wird sie die Koalition sprengen“, sagte Schröder in einem Interview der Zeit voraus. „Dann werden wir 2019 sehr interessante Neuwahlen haben.“In Bayern wird im kommenden Herbst der Landtag neu gewählt, derzeit sagen die Umfragen der CSU ein Ergebnis von unter 40 Prozent voraus.
Der SPD empfiehlt Schröder für den Fall des Scheiterns der JamaikaSondierungen, nicht in eine große Koalition einzutreten. Wenige Tage nach der Bundestagswahl hatte er noch kritisiert, die SPD habe sich zu früh auf die Opposition festgelegt. Mit Blick auf den Zustand seiner Partei sagte Schröder, die SPD dürfe sich nun nicht in Personaldebatten aufreiben. „Bei der SPD gibt es gute Leute wie Andrea Nahles und Olaf Scholz“, sagte er. Zudem hob er die Leistung des ehemaligen SPD-Vorsitzenden hervor: „Mich bedrückt, dass einer der Begabtesten, Sigmar Gabriel, nicht die Wertschätzung erhält, die er verdient.“
Schröder übte scharfe Kritik an seinen Parteikollegen für ihr Verhalten in der Flüchtlingskrise. „Unsere Leute sind rumgelaufen mit ,Refugees welcome‘-Plaketten – das war falsch“, sagte er. Sie hätten nicht wahrgenommen, „dass damit der Eindruck einer uferlosen Zuwanderung entstehen könnte“. Das habe Ängste bei potenziellen SPDWählern geweckt. Viele Flüchtlinge müssten erst alphabetisiert, andere qualifiziert werden. „Das wird Milliarden kosten“, sagte Schröder. Wenn dies gelänge, „wären diese Leute durchaus hilfreich angesichts des Mangels an Fachkräften“.