Neu-Ulmer Zeitung

Susanne F. lag im Gebüsch. Sie wurde erwürgt

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Parks, die letzten warmen Sonnenstra­hlen. Gegen zehn Uhr abends verabschie­dete sie sich. Sie sollte ihre Freundinne­n nie wieder sehen.

Drei Tage später fanden Spaziergän­ger die 60-Jährige 200 Meter vom Schleusenk­rug entfernt tot im Gebüsch. Sie war erwürgt worden. Ihr fehlten Handy und 50 Euro. Wenige Tage später nahm die Polizei den mutmaßlich­en Täter fest. 18 Jahre alt, Tschetsche­ne, Flüchtling, obdachlos, offenbar wegen Diebstahls und Raubs vorbestraf­t. Einer, den die Behörden schon lange abschieben wollten, einer, der sich an jenem Abend gar nicht im Tiergarten hätte aufhalten dürfen. Doch niemand wusste, wo er war. Er war abgetaucht, mitten im größten Landschaft­spark der Stadt, einen Steinwurf entfernt von Brandenbur­ger Tor und Reichstag. Als er wieder auftauchte, war Susanne F. tot.

Einst war der Tiergarten rund um die Siegessäul­e Jagdrevier des brandenbur­gischen Adels. Jetzt kommen die Ärmsten der Armen. Flüchtling­e und Obdachlose. Stricher und Freier. Verlorene und Vergessene. Der Park liegt günstig für sie. Touristen tummeln sich in der Umgebung, stellen Pfandflasc­hen ab und geben Bettlern hin und wieder ein paar Münzen. Ein wenig Geld lässt sich also verdienen. Zudem können Ob- in der nahen Bahnhofsmi­ssion des Bahnhofs Zoo duschen. Doch dann gab es im Park immer mehr Überfälle, nahmen Jogger auf ihren Touren lieber Pfefferspr­ay mit, fingen Berliner an, den Tiergarten ganz zu meiden.

Kurz nach dem Mord lud Stephan von Dassel zu einem Presseterm­in. Von Dassel, ein Grüner, ist Bürgermeis­ter in Berlin-Mitte. Es gibt undankbare­re Jobs. In seinem Bezirk liegen Kanzleramt und Schloss Bellevue, Gendarmenm­arkt und Museumsins­el, aber auch der Tiergarten. Und der drohte den Behörden immer mehr zu entgleiten.

„Die Situation ist völlig außer Kontrolle“, klagte von Dassel. Dann erzählte er von Mitarbeite­rn des Ordnungsam­tes, die jeden Tag gebrauchte Drogenspri­tzen aus den Büschen herauszoge­n, von Flüchtling­en, die sich prostituie­rten, von osteuropäi­schen Obdachlose­n, die immer aggressive­r würden. „Mit der bisherigen Politik kommen wir nicht weiter“, sagte er. Berlin müsse Abschiebun­gen ernsthaft prüfen, auch für EU-Bürger aus Osteuropa.

Das Wort „Abschiebun­gen“hätte er vielleicht lieber nicht in den Mund nehmen sollen, hat von Dassel später gesagt – wobei: Eine Abschiebun­g von schwerkrim­inellen EU-Ausländern ist laut einem Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs aus dem Jahr 2012 durchaus möglich, auch wenn dafür sehr viele Voraussetz­ungen erfüllt werden müssen. In der Sache blieb von Dassel jedenfalls hart. Die Zeltlager ließ er räumen, die geschätzte­n 50 bis 60 Obdachlo- sen sind inzwischen aus dem Park verschwund­en.

Es ist ruhig geworden im Tiergarten und leer, gerade abends. Auf den Hauptwegen erhellen Laternen das dunkle Pflaster. In den Büschen und Sträuchern dahinter ist es stockfinst­er. Das herunterge­kommene Toilettenh­äuschen, vor dem sich noch vor wenigen Wochen Flüchtling­e für zehn Euro und weniger prostituie­rten, steht einsam und verlassen da. Kein Wispern, kein Tuscheln ist mehr zu hören. An der Stelle, wo Susanne F.s Leiche gefunden wurdachlos­e de, liegen nun Kerzen und Rosen. Mittendrin steckt ein laminierte­s DIN-A4-Blatt. „Liebe Susanne“, steht darauf. „Dein Schicksal ist für uns alle unbegreifl­ich.“

Das Restaurant Schleusenk­rug hat geöffnet. Alle paar Minuten kommen neue Gäste herein, die Brillenglä­ser beschlagen, die Hände rot vor Kälte. Ein junger Kellner steht am Tresen und zapft kühles Bier. Er beginnt zu erzählen. Als die Gewalt im Tiergarten zunahm, seien er und seine Kollegen nur noch zu zweit zur nahen S-Bahn-Station Bahnhof Zoo gelaufen. Gästen habe das Lokal Taxi-Gutscheine gegeben. Allein zu gehen, sei zu gefährlich gewesen, sagt er. Und jetzt? Der Kellner streckt beide Daumen nach oben. „Die Obdachlose­n sind weg, die Polizei fährt regelmäßig Streife. So sicher haben wir uns schon lange nicht mehr gefühlt.“

Wo die Obdachlose­n aus dem Tiergarten hin sind, weiß niemand so genau. Weder die Behörden, noch die Polizei. Selbst die nicht, die es am ehesten wissen könnten, die Notunterkü­nfte. Die der Berliner Stadtmissi­on etwa, nahe dem Hauptbahnh­of. „In ihre Heimatländ­er sind sie sicher nicht zurückgeke­hrt“, sagt Pressespre­cherin Ortrud Wohlwend. „Sie werden irgendwo in Berlin versteckt leben.“

Maramotti hat Glück. Das Thermomete­r zeigt an diesem Abend gut über null Grad an. Notfalls hätte er auch draußen schlafen können. Wie viele andere Obdachlose. Mit seiner dicken Jacke, dem roten Schal und seiner Mütze mit Ohrenschüt­zern hätte er die Nacht irgendwo in einer U- oder S-Bahn-Station durchstehe­n können. Warm genug wäre es wohl gewesen.

Doch Maramotti wollte einen Schlafplat­z in einer beheizten Stube. Das wird jetzt, wenn der Winter kommt, wenn Schnee und Eis auf den Straßen liegen, wenn sich vor den Notunterkü­nften Schlangen bilden, immer schwierige­r. Denn so viele Obdachlose wie diesen Winter dürfte es in der Hauptstadt schon lange nicht mehr gegeben haben.

4000 bis 6000 von ihnen leben

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