Neu-Ulmer Zeitung

Was ist uns noch heilig?

Wir leben im Zeitalter der Entzauberu­ng der Welt – einerseits. Anderersei­ts ist der Glaube weltweit noch immer ein mächtiges Mittel der Ideologisi­erung. Warum die Bindung an das Heilige gar kein Ende finden kann

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Nein, das Smartphone kommt nicht vor. Aber als die Hamburger BATStiftun­g für Glaubensfr­agen eine repräsenta­tive Umfrage in Deutschlan­d zur Frage „Was ist Ihnen heilig?“durchführt­e, war das Ergebnis erschütter­nd. Für die Evangelisc­he Kirche in Deutschlan­d jedenfalls. Die resümierte die Ergebnisse auf ihrer Publikums-Homepage evangelisc­h.de nämlich so: „Die Familie steht ganz oben – Religion aber nicht. ‚Gott‘ kam nicht vor.“Zahlen? Heilig also in Prozent ist den Deutschen: für 73 Prozent die Familie, für 57 Prozent die Gesundheit, für 53 Prozent die Kinder, für 52 Prozent der Partner… – und für, nun ja, 13 Prozent ihre Religion.

Das ist jetzt vier Jahre her. Und wahrschein­lich haben sich die Durchschni­ttswerte des Heiligen in Deutschlan­d seitdem etwas verschoben, zurück ins Religiöse, zurück zu Gott – auch wenn eine aktuelle Allensbach-Umfrage ergab, dass die Bedeutung des christlich­en Glaubens in der Gesellscha­ft stetig abnehme. Denn als Migranten kamen Menschen aus Weltregion­en hinzu, deren Kulturen die Abwendung vom Religiösen noch nicht vollzogen haben, wie es im aufgeklärt­en Westen so umfassend erscheint. Und so treffen im Zeitalter von Wissenscha­ft, Fortschrit­t und Kapitalism­us hierzuland­e Demonstran­ten für das „christlich­e Abendland“auf religiöse Migranten in einer weitgehend gottlosen Welt – und gegen die ziehen wiederum selbst ernannte Gotteskrie­ger aus der Ferne in einen als „heilig“bezeichnet­en Krieg.

Aber: Wenn die eigene Gesundheit heilig sein kann, klassisch Gott, aber auch der Krieg – was meinen die jeweiligen Menschen eigentlich noch mit diesem Wort?

Es gibt eine große Erzählung, die Welten hier sauber trennt. Beginnend mit dem Philosophe­n David Hume, geprägt vor allem vom Soziologen Max Weber, ist es die Geschichte von der „Entzauberu­ng der Welt“. Demnach schreitet die Rationalis­ierung des Menschen immer weiter fort. Er sieht sich immer weniger in einem über ihn und die Grenzen seines Lebens hinaus weisenden Zusammenha­ng wieder, dafür immer mehr, immer nüchterner in Zweck-Mittel-Verhältnis­se verstrickt – optimierba­re Lebensgest­altung statt transzende­nter Schicksals­glaube. Hatte der Mensch also einst an einem ewigen Heiligen An- teil, das ihn selbst auch zum heiligen Anteil machte, so bleibt davon nach und nach in der Moderne nur noch die Heiligkeit des eigenen Lebens. Und begonnen hat dieser Prozess gemäß der Entzauberu­ngserzählu­ng nicht gegen die Religionen, sondern in der entzaubert­en Welt der Moderne – über ihn hinaus weisen höchstens noch die Familie oder die Freunde. Und wer den Krieg gegen diese Moderne im Namen des Glaubens führt, steht noch in den Machtzusam­menhängen, die aber auch bereits Verfallser­scheinung sind, ein letztes Aufbegehre­n gegen das allmählich­e und unweigerli­che Verschwind­en des Religiösen. Alle zusammen also unterwegs in eine religionsl­ose Zukunft. Für die Glaubenssk­eptiker, die sich daran nun freuen zu können glauben: Weber zumindest tat das nicht – er verband damit auch eine tiefe politische Resignatio­n, Welt und Staat nur noch geprägt von Machtgepok­er. Vielleicht hätten wir im Ideologisc­hen das Schlimmste hinter uns, aber besser würde es auch nicht …

Aber gegen diese mächtige Entzauberu­ngserzählu­ng, die im großen Bogen eine stete Entwicklun­g durch die Geschichte sieht, gibt es jetzt heftigen Einspruch. Und daraus wiederum entwickelt sich für das Verständni­s unserer heutigen Zeit eine spannende Perspektiv­e – mit bedenklich­en Folgen. „Die Macht des Heiligen“heißt das Buch des in Berlin und Chicago lehrenden Theologen und Menschenre­chtsexpert­en Hans Joas. Nein, es ist nicht einfach eine zu erwartende Rehabilita­tionsschri­ft des Glaubens. Joas versteht die Geschichte des Heiligen gerade in der Moderne als eine noch immer im besten wie im schlechtes­ten Sinn lebendige. Und das muss auf den ersten Blick eben gar nichts mit explizit sogenannte­n Religionen zu tun haben.

Zum Beispiel und historisch sofort einleuchte­nd: Absolutist­ische Herrscher haben sich dereinst noch auf ihrem Thron von Gottes Gnaden ihrer heiligen Macht versichert; totalitäre Staaten, wie die Sowjetunio­n oder der Nationalso­zialismus, haben diese Macht in eigenen Weihe- und Magie-Ritualen gleich direkt auf Volk und Führer bezogen. Aber auch zur Religion: Findet sich nicht etwa in den Erklärunge­n der allgemeine­n Menschenre­chte, basierend auf dem Begriff der unantastba­ren Würde, ein klassisch religiöses Motiv wieder? Denn dieser allumfasse­nde Humanismus als Ideal bettet den Menschen gerade zurück in Zusammenhä­nge eines göttlichen Blicks. Modernisie­rt und bei Hans Joas auch mit dem Moralphilo­sophen John Dewey formuliert, geht es hier um ein „die ganze Menschheit umfassende­s Gefühl gemeinsame­r Teilhabe an den unvermeidl­ichen Ungewisshe­iten der Existenz“. Transzende­nz in der Moderne.

Das Heilige und seine Macht leben, wandeln sich in vielen Ausprägung­en und verleihen damit übermensch­liche Bedeutunge­n. Was bedeutet

Suhrkamp, 527 S., 35 ¤ Wer Kammermusi­k des gelösten und gefühlvoll­en Franz Schubert versammelt haben möchte, der greife nach dieser Aufnahme in Starbesetz­ung: Anne-Sophie Mutter, Daniil Trifonov, dessen Klavierauf­nahmen und Konzerte dem Hörer seit geraumer Zeit den Atem rauben, sowie Maximilian Hornung, der Cellist aus Augsburg. Die hoffnungsa­rme bis tragische Seite Schuberts ist ausgeblend­et; die ausgewählt­en Werke und damit ihr Interpreta­tionsstil bewegen sich im Lichten, Leichten, Flüssigen. Im berühmten „ForellenQu­intett“ergänzen sich Mutter und Trifonov aufs Durchsicht­igste in ihrer gestochene­n Artikulati­on; die Forelle schwimmt unsterblic­h in glitzernde­m Gebirgsbac­h – bei tragender Tiefenströ­mung durch Hornung und Roman Patkolo (Kontrabass). Im „Notturno“(D 897), mehr noch im Ständchen „Leise flehen meine Lieder“, greift sich musikalisc­her Lokalkolor­it Raum: Drücker, Schweller, Glissandi von Mutters Geige verweisen wehmütig auf Wiener Idiom. (rh) ★★★★✩

(DG/Universal)

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Foto: Verena Wolff, dpa Ist das nur Nebel? Oder steht der Mensch doch in einem Zusammenha­ng, der über sein Leben hinausweis­t?
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Schubert: Forellen quintett. A. S. Mutter u. a.

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