Einer sagt: Für die Behörden sind wir nur Nummern
treffen sich Überlebende und Nachbarn, Aktivisten und Trauernde zu einem Gedenkmarsch, dem „Silent Walk“. So auch an diesem Abend.
Es ist 19 Uhr, als die Menge plötzlich verstummt. Eine fast gespenstische Stille legt sich über die Gegend. Wie beim Trauerzug während einer Beerdigung bewegen sich die Menschen langsam durch die abgesperrten Straßen, vorbei an noblen Adressen und einfachen Arbeiterhäusern. Nur ihre Schritte sind zu hören und von weiter Ferne der Verkehr der Millionen-Metropole. Einigen laufen Tränen über die Wangen, andere sind still im Schmerz versunken, manche wedeln mit ihren Plakaten.
Auf halber Strecke haben sich Feuerwehrleute am Wegrand aufgestellt, um den Opfern ihre Ehre zu erweisen, sowie jenen Überlebenden, die traumatisiert sind, die alles verloren haben – Familienfotos, Erbstücke, Klamotten. Viele trugen damals lediglich einen Pyjama, als sie aus der Flammenhölle flüchteten. Einer nach dem anderen geht auf die Rettungskräfte zu. Sie schütteln ihnen wortlos die Hände, drücken sie wie zum Dank fest an sich.
Es sind bewegende Momente. Alle haben Geschichten von Verlust und Verzweiflung zu erzählen, sie überschatten das Leben dieser Menschen seit dem 14. Juni. So, wie seitdem das 24-stöckige Monster den Bezirk Kensington und Chelsea im Westen Londons überschattet.
Die ehemaligen Bewohner des Sozialblocks sehen sich nicht mehr häufig, zu verstreut in der Stadt leben sie mittlerweile. Auch wenn Premierministerin Theresa May nach dem Desaster jenen 208 Fami- lien, die eine neue Unterkunft benötigten, zügige Hilfe und eine neue Wohnung innerhalb von drei Wochen in Aussicht gestellt hat: Erst 45 von ihnen wohnen mehr als sechs Monate später in einem neuen, richtigen Zuhause. Alle anderen sitzen fest. Mehr als einhundert Haushalte feierten Weihnachten in Hotels.
Zu ihnen gehört der 20-jährige Tiago Alves. „Das erste Trauma für uns war der Versuch, dem Feuer zu entkommen und zu sehen, wie die Menschen um Hilfe gebettelt haben“, sagt der Mann, der damals aus dem 13. Stock fliehen konnte. „Das zweite Trauma ist die Art und Weise, wie wir seitdem behandelt werden. Nichts kann verheilen, wenn man weiterhin verletzt wird.“
Die Wut ist groß, das Leben im Hotel zermürbend, insbesondere für Familien mit Kindern. Auf engstem Raum wohnen sie in einem Provisorium. Ohne Küche. Ohne wirkliche Privatsphäre. Ohne Platz für die Kinder, um Hausaufgaben zu ma- chen, oder für Gäste. „Für die lokalen Behörden sind wir Nummern auf einem Stück Papier“, sagt Alves einigen Journalisten.
Dabei gehört der Bezirk Kensington und Chelsea zu den reichsten im Königreich. Nirgendwo sonst aber sind gleichzeitig die sozialen Unterschiede größer. Die Ärmsten der Gesellschaft teilen sich die Nachbarschaft mit den Reichen und klagen, dass sie seit Jahren von den Entscheidungsträgern vernachlässigt, von Geld und Macht verdrängt würden. Das Grenfell-Feuer steht mittlerweile für all das, was auf der Insel schiefläuft. Die jahrelange Sparpolitik der Regierung, die Kürzungen im Sozialsystem, horrende Immobilienpreise in London, auch in Folge von Luxussanierungen mit entsprechenden Folgen für die bisherigen Bewohner, Einschnitte im Öffentlichen Dienst und die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich.
„Grenfell ist die Demonstration der Krise“, sagt Moyra Samuels. Sie marschiert ebenfalls regelmäßig beim „Silent Walk“mit, ist eigentlich Lehrerin, doch für ihren Beruf hat sie kaum noch Zeit. Die 60-Jährige engagiert sich in der Bürgerinitiative „Justice 4 Grenfell“, die Samuels als „politischen Flügel des Widerstands“beschreibt. Die Wut der freundlichen, energischen Frau flammt immer wieder auf, wenn sie über „die Arroganz der Konservativen“spricht, über fehlende Sprinkleranlagen im Hochhaus und gleichgültige Reaktionen der Behörden. „Wir kämpfen dafür, dass die Wahrheit aufgedeckt wird.“
Die Gruppe fordert Gerechtigkeit und dass die „Schuldigen“in der Bezirksverwaltung und unter den Vermietern vor Gericht landen. „Die Verantwortlichen müssen ins Gefängnis“, sagt Moyra Samuels immer wieder – und weiß doch, dass das ein langwieriger Prozess werden wird. Es laufen eine unabhängige Untersuchung eines ehemaligen Richters sowie Ermittlungen der Polizei. Sie sollen bis mindestens Ende 2018 dauern.
Die Mieterinitiative von Grenfell hatte immer wieder vor mangelhaftem Brandschutz gewarnt, lange vor dem Inferno, das durch einen defekten Kühlschrank im vierten Stock ausgelöst wurde. Aber sie stieß wiederholt auf taube Ohren. Sie sei überzeugt, dass „erst ein katastrophaler Vorfall die Unfähigkeit und Stümperei unseres Vermieters“ans Licht bringen werde, hieß es in einem Internet-Blogbeitrag unter der mittlerweile makaber anmutenden Überschrift „Spiel mit dem Feuer“.
Auch die Fassadenverkleidung war Thema gewesen – bevor sich genau diese in der schicksalhaften Nacht als Brandbeschleuniger entpuppte. Berichten zufolge hatten wohlhabende Nachbarn sie gewünscht, weil der schmucklose Turm die Aussicht störte. Für die Ummantelung aber wurde aus Spargründen entflammbares, günstiges