Leitartikel
Union und SPD haben es mit ihren Gesprächen nicht eilig – und schaden damit auch dem Standort Deutschland. Warum Stillstand heute Rückschritt bedeutet
Das neue Jahr beginnt, wie das alte geendet hat. Ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland, die bislang so stolz auf ihre beispiellose politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität war, hat seit mehr als drei Monaten keine gewählte Regierung mit einer sie tragenden parlamentarischen Mehrheit – und wird auch auf absehbare Zeit keine bekommen. Bis Ostern könnte es durchaus dauern, bis CDU, CSU und SPD ihre Verhandlungen über eine wie auch immer geartete Regierungsbildung abgeschlossen haben.
Das allerdings setzt mehrere positive Entwicklungen voraus: Erstens müssen die Spitzen von CDU, CSU und SPD bei ihren Sondierungsgesprächen zu dem Ergebnis kommen, dass sie tatsächlich Verhandlungen aufnehmen wollen. Zweitens muss sich ein SPD-Sonderparteitag am 21. Januar dieser Bewertung anschließen. Drittens dürfen die Verhandlungen nicht an strittigen Themen wie der Bürgerversicherung, der Obergrenze für Flüchtlinge oder dem Familiennachzug scheitern. Und viertens muss die SPD-Basis in einem Mitgliederentscheid den Verhandlungsergebnissen zustimmen. Jede einzelne Hürde ist hoch, eine Erfolgsgarantie gibt es nicht, das Risiko des Scheiterns besteht bis zuletzt.
So blickt Deutschland zu Beginn des neuen Jahres mit bangem Blick auf die bevorstehenden zwölf Monate. So viel Ungewissheit und Unklarheit waren schon lange nicht. Denn im schlimmsten Falle käme es wohl zu Neuwahlen im Frühsommer – einschließlich Neuauflage der Sondierungen und Verhandlungen bis in den Herbst.
Eine mehr oder minder einjährige Auszeit aber kann sich selbst ein so wirtschaftlich stabiles und starkes Land nicht leisten, ohne Gefahr zu laufen, den Anschluss zu verlieren und im globalen Wettbewerb um den besten Standort mit den besten Rahmenbedingungen und der besten Infrastruktur abgehängt zu werden. Denn ohne Regierung kein Haushalt. Ohne Haushalt keine Investitionen. Und ohne Investitionen keine Zukunft. In derart beschleunigten Zeiten wie diesen bedeutet Stillstand bereits Rückschritt: Die Konkurrenz wartet nicht, bis sich die Parteien in Deutschland sortiert haben, sondern wird den Vorteil, der sich durch die Abstinenz auf der politischen Bühne ergibt, für sich nutzen. Auch das sollten die Sondierer um Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz beachten. Ihre Befindlichkeiten sind der Welt relativ egal.
Denn an Problemen und Herausforderungen, die eine in jeder Beziehung handlungsfähige Regierung benötigen, herrscht kein Mangel. Die Digitalisierung erfasst alle Bereiche der Wirtschaft wie des Lebens, doch der Netzausbau kommt nur schleppend voran. Eine Entlastung der Bürger bei den Steuern ist überfällig, bei der Pflege besteht dringender Handlungsbedarf, die Renten müssen über das Jahr 2030 hinaus krisenfest gestaltet werden, bei der Bildung darf man sich nicht mit Plätzen im unteren Mittelfeld zufriedengeben. Und die Gewährleistung der inneren wie der äußeren Sicherheit hat höchste Priorität.
2018 kann zu einem Schlüsseljahr werden. CDU/CSU und SPD waren deswegen in der Vergangenheit erfolgreich, weil sie als Volksparteien die großen Interessenkonflikte ausgleichen und nach innen wie nach außen für Sicherheit, Stabilität, Berechenbarkeit und eine maßvolle Fortentwicklung sorgen konnten, sie standen für Kontinuität im Wandel. Wenn ihnen das in diesem Jahr nicht gelingt, wenn sie die Stabilität aufs Spiel setzen und für Unsicherheit sorgen, werden sie weiter massiv an Zustimmung verlieren – was noch mehr Instabilität und Unsicherheit zur Folge hat. Ein wahrer Teufelskreis. Es steht viel auf dem Spiel. Zu „Gestorben 2017“(Silvester Journal) vom 29. Dezember: Mit Traurigkeit (und Entsetzen) stellte ich fest, dass unter den Gestorbenen Andrea Jürgens nicht aufgeführt wurde. Sie war eine große Persönlichkeit und wunderbare Sängerin. Da sie am gleichen Tag wie ich (15. Mai) Geburtstag hatte, habe ich immer auf sie angestoßen. Andrea Jürgens starb am 20. Juli 2017 im Alter von nur 50 Jahren.
Augsburg Zu „Jeder Zweite wünscht Merkels Ab gang“und dem Kommentar „Wer kommt nach Merkel?“von Walter Roller (Seite 1) vom 28. Dezember: Haben Sie es gemerkt? So sieht für mich geschickte journalistische Meinungsmache aus: Da der Begriff „Jeder Zweite“mathematisch gesehen immer noch 50 % ergibt, könnte man mit gleichem Recht auch titeln: „Jeder Zweite wünscht sich Merkel weiterhin als Kanzlerin.“Die Überschrift des nebenstehenden Kommentars „Wer kommt nach Merkel?“impliziert dem Leser zusätzlich den identischen Eindruck wie der Bericht. Was beide Artikel nach meiner Auffassung außerdem vermissen lassen, ist ein konkreter Verbesserungsvorschlag seitens der Journalisten, wenn man uns schon den Eindruck vermitteln will, Frau Merkel wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, die Amtsgeschäfte einer Kanzlerin kompetent zu führen.
Nordendorf Zum Leitartikel „Gleichheit auf Rezept? Die Tücken der Bürgerversicherung“von Rudi Wais vom 29. Dezember: Dank an Rudi Wais, der in seinem Leitartikel mit der Mär der SPD aufräumt, dass mit einer Bürgerversicherung alles besser und gerechter wird. Die Verzweiflung in der SPD muss schon sehr groß sein, wenn dieses Thema so in den Vordergrund gerückt wird, gibt es doch im Gesundheitswesen weitaus dringender zu lösende Fragen. Man darf gespannt sein, ob die Union in den Verhandlungen ihre derzeitige Position behält oder diesen Unsinn mitmacht?
Unterdießen