Ein Maler Leben unter vielen Kindern
Der spanische Künstler war Nesthäkchen unter 13 Geschwistern, er hatte neun Söhne und Töchter, und er ist berühmt vor allem für seine Straßenkinder-Szenen
„Ach, sind die süß“, flüstert die ältere Dame. „Und erst der Hund!“
Wer eine Weile im Spanier-Saal der Alten Pinakothek München verbringt, hört ständig solche Kommentare – und ist nie allein. Nicht nur die Münchner mögen die Bilder von Bartolomé Esteba Murillo, auch die Touristen finden sie „dolci“und „so charming“– und überhaupt steht man dauernd im Weg, weil die niedlichen Buben natürlich nach Erinnerungsfoto schreien.
Verständlich ist das; man kann sich den dunklen Kulleraugen ja kaum entziehen. Dabei nagt gerade das Süße am Image des Malers. Leider, muss man sagen, denn diese Bilder erzählen genauso viel über Sympathie und menschliche Würde. Zum 400. Geburtstag Murillos gibt es genug Gelegenheiten, den Künstler und sein scheinbar so eingängiges Werk neu zu erkunden.
Wobei die Sevillaner den großen Sohn der Stadt schon seit Monaten feiern. Murillo ist mit einiger Sicherheit Ende Dezember 1617 geboren, und da man in seuchengeplagten Zeiten mit der Taufe nicht lange wartete, fand diese am Neujahrstag 1618 in der Magdalenenkirche statt. Beim jüngsten von 14 Kindern war das Prozedere längst eingespielt, wobei zu ergänzen ist, dass viele Kinder damals das Erwachsenenalter gar nicht erst erreichten. Im Fall Murillos war es umgekehrt: Sein Vater, ein Barbier, und die Mutter starben, als Bartolomé erst zehn Jahre alt war.
Doch der Kleine hatte Glück im Unglück. Seine Schwester Ana und ihr wohlhabender Ehemann nahmen ihn auf. Sie erkannten zudem das künstlerische Talent des Jungen und gaben ihn zu Juan del Castillo in die Ausbildung. Bei diesem soliden, von den Italienern beeinflussten Maler lernt Bartolomé nicht nur die Grundlagen, also das Zeichnen und den Auftrag der Farben, sondern auch das Komponieren von Gemälden. Und er saugt auf, was im noch prosperierenden Sevilla von den bedeutsamen Altvorderen Cano, Zurbarán und de Ribera zu sehen ist.
Diese Eindrücke genügen ihm, um über Andalusien hinaus Karriere zu machen. Im Gegensatz zum 18 Jahre älteren Velázquez bleibt Murillo allerdings zeitlebens in seiner Heimat, und auch die SüdamerikaReise, die ihm der deutsche Künstlerbiograf Joachim von Sandrart 1675 in die Vita schreibt, dürfte im Stadium des Jugendtraums stecken geblieben sein.
Nur einmal, in den späten 1640er Jahren, machte sich Murillo für ein paar Monate nach Madrid auf. Am Hof Philipps IV. trifft er auf die Werke von Velázquez und vermutlich auch auf den Künstler selbst, und in den königlichen Sammlungen kann er Tizian und Rubens und all die anderen angesagten Italiener und Flamen studieren. Vor allem deren Farben beeindrucken ihn mächtig, und bald schon malt Murillo freier. Er modelliert zunehmend weicher und stellt seine Madonnen in sanftes Licht. In seinem neuen „estilo vaporoso“fühlt sich der Betrachter an die duftig-zarten Seiten des späteren Rokoko und späteren Impressionismus erinnert.
Selbst die ungezählten Heiligen, die jetzt in Sevilla für diverse Auftritte in Positur gebracht werden, scheinen über den Gemälden zu schweben und erledigen ihre oft durch Martyrien erschwerte Mission mit erstaunlicher Eleganz. Lange nach Murillos Tod 1682 brachte ihm das den Vorwurf ein: Propagandamaler der Gegenreformation. Man übersah dabei, dass es in Spanien anders als in Italien, Frankreich und Holland (bis weit ins 19. Jahrhundert) kaum bürgerliches Mäzenatentum gab – und Künstler schlicht von den Aufträgen der Kirche und des hyperkatholischen Königshofs abhingen.
Obwohl keine einzige „Inmaculada“, also die in Spanien so gefragten „unbefleckten“Marien, den Weg nach München gefunden hat, kann die Entwicklung des Malers in der Alten Pinakothek besonders gut nachvollzogen werden. „In dieser einmaligen Sammlung an Genrebildern Murillos sind alle wichtigen Phasen vertreten“, erläutert Elisabeth Hipp, die am Haus für die französische und spanische Malerei zuständig ist. Und man kommt der Persönlichkeit des Künstlers gerade in den Darstellungen der Bettlerbuben ziemlich nahe.
Murillo hatte mit seiner Frau Beatriz neun Kinder und ging bei allen beruflichen Anforderungen in Familie und Gesellschaft auf. Das mag nur zum Teil mit der eigenen Jugend zusammenhängen, die Zeiten sind einfach danach: Zum einen beginnt Mitte des 17. Jahrhunderts der Niedergang Sevillas – die bis dato größte Stadt Spaniens verliert ihr Monopol im Amerika-Handel. Und als 1649 die halbe Bevölkerung von einer Pestepidemie hingerafft wird, spült es zahllose Obdachlose und Waisenkinder auf die Straßen. Aber Murillo, der täglich die Not vor Augen hat, wird nie zum Voyeur der Elenden. Vielmehr malt er deren Schönheit aus einer liebevollen Sicht, die bis heute berührt. Er begegnet seinem Bild-Personal mit Respekt. Die Melonenund Pastetenesser mögen bitterarm sein, das sieht man an den Lumpen, die sie tragen, „aber sie freuen sich über jede einzelne Traube, sie genießen den Augenblick und sind sich selbst genug“, so Elisabeth Hipp.
Auf diesen ganz individuellen Gemälden Murillos sind überhaupt viel Zärtlichkeit und Mitgefühl im Spiel, das hat gerade die ausländischen Kaufleute und Diplomaten angesprochen, die dem Künstler die Genreszenen förmlich aus den Händen rissen. Deshalb kamen weniger die mädchenhaften Marien als eben die Straßenkinder für beträchtliche Summen in den europäischen Umlauf – und wurden exzessiv kopiert.
Ihren betuchten Betrachtern demonstrieren diese Kinder, wie wenig sie brauchen, um glücklich zu sein, und wie wenig ein Lächeln mit Geld und Wohlstand zu tun hat. Was sie sich da zugetraut hat! Die junge Österreicherin Irene Diwiak legt mit ihrem Debüt „Liebwies“keinen dieser Selbst und Zeit bespiegelnden Generationsromane vor. Sie greift mutig hinein in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und verhandelt eine hinreißend gestrickte Geschichte, die die Verblendungen der Liebe mit denen der Gesellschaft bis ans Ende des Zweiten Weltkriegs verfolgt …
Ein versehrter Musiklehrer strandet in dem abgeschnittenen Kaff Liebwies – und entdeckt ein Gesangsjuwel. Er alarmiert einen Kollegen aus der Großstadt, der aber wird beim Vorsingen aus Liebe taub und nimmt statt der talentierten eine völlig untalentierte Sängerin mit zurück, weil die aussieht wie seine verstorbene Gattin. Und in der Stadt wiederum gerät ein befreundeter Komponist wiederum aus Zufall an seine weltferne Frau, die im Geheimen aber so traumschöne Melodien schreibt, dass diese sogar die untalentierte Sängerin aus Liebwies zum Star machen könnten…
Klingt nach einer einzigen Groteske? Die 28-jährige Grazerin Diwiak weitet das alles tatsächlich mit erstaunlich leichter Hand zu einem Gesellschaftsstück aus, in dem intime Momente wie auch der aufkommende Antisemitismus glaubhaft aufgehen. Ihre ganze Liebe gilt in diesem Historienspiel den Frauenfiguren. Dass ihr die Männer dagegen auf geradezu lustige Weise missglücken, macht dieses mutige Debüt fast nur noch beglückender. (ws)
Deuti cke, 336 S., 22 ¤
„Ihr Rock liegt eng an den Schenkeln an. Er ist wie immer zu kurz. Der Stoff kräuselt sich. In der Regel kauft sie ihre Röcke immer eine Nummer zu klein. Sie hat eine Schwäche für knallige Farben. In ihrem Alter setzt man Neongelb noch mit der Sonne und Ferrarirot mit Granatapfelsaft gleich. Sie verlässt das Haus, siegesgewiss lächelnd …“
Ja, Lola geht auf Jagd, und wieder wird sie auf High Heels in Paris irgendeinen Mann erbeuten, dem sie dann ein Stück Fingernagel abknipst, als Teil ihrer Trophäensammlung. Es geht viel um Sex in diesem Debütroman der 38-jährigen Französin Julie Estève – für Zartbesaitete ist das sicher nichts. Aber für Romantiker mit Hang zum postmodernen Geschlechterdrama allemal. Denn natürlich gerät Lola irgendwann an einen, von dem sie auch anders berührt werden will. Und natürlich ist das ein merkwürdiger Typ: „Er weint nur über erfundene Geschichten, nicht über wahre.“Aber ob der Alltag der Liebe und das zärtliche Beinanderliegen in die Lustwelt der Generation Tinder (natürlich kommt Lola ohne Dating-App aus) überhaupt noch passt? Mächtig Drive entwickelt Julie Estève in diesem kurzen Roman; Vorbilder wie die über solche Romane zum Star gewordene Landsfrau Virginie Despentes („Baismoi“) sind herauszulesen. Aber wenn jene es schafft, dabei auch noch kritische Gesellschaftbilder zu entwickeln, so bleibt hier nichts als ein Reigen aus starken Szenen. (ws)
Übs. Christi an Kolb. Rowohlt. 160 S., 19,95 ¤