Ein Weizenbock auf Doktor Faust
Ganz München beschäftigt sich in den kommenden sechs Monaten mit Goethes berühmtester Tragödie. Mehr als 200 Institutionen auf der Suche nach des Pudels Kern
Es brodelt. In Münchner Ateliers wird geschraubt und genäht, diskutiert und geprobt, werden Gedanken und Worte gewälzt. Die Kulturszene ist unterwegs, in der Werkstatt, im Geist, in der Stadt, im Bücherregal. Wo ist nur…? Und warum…?
Der Treibstoff dazu kommt unscheinbar daher in Form eines gelben Büchleins. Reclams Nummer 1 der Universalbibliothek, erstmals verkauft 1867: „Faust“. An Goethes „Tragödie erster Teil“kommt bis heute kaum ein deutscher Schüler vorbei. Ist Faust, der Vierfachstudierte, nicht geradezu ein Prototyp des modernen Menschen: rastlos, suchend, immer mehreres auf einmal anpackend – und doch nie recht zufrieden? Und lässt sich nicht in der Beziehung zwischen Mensch und Smartphone ein beinahe faustischer Pakt erkennen – wenn wir den Zugang zu schier unendlichen Weiten des Wissens eintauschen gegen unsere intimsten Informationen?
Jedenfalls dreht sich nun für gut sechs Monate bei einem Festival in so noch nicht da gewesener Form alles um Goethes berühmtestes Drama: Die Initialzündung zum Großprojekt gab Roger Diederen, Direktor der Kunsthalle München. Bei der Konzeption der Ausstellung „Du bist Faust. Goethes Drama in der Kunst“, die während des Festivals zu sehen sein wird, entstand die Idee, die ganze Stadt zur Projektionsfläche für das weltweit berühmteste deutsche Drama zu machen. „Der Text ist immer noch hochak- tuell und kann auf unterschiedlichsten Ebenen die Menschen zusammenbringen“, so Diederen.
Als Partner gewann er rasch den Geschäftsführer des Kulturzentrums Gasteig, Max Wagner. Nun galt es, gemäß Faust auch „Taten sehn“zu lassen. Dabei hat sich das bis zum 29. Juli laufende Festival ein anspruchsvolles Ziel gesetzt: Getreu dem Motto „Wir alle sind Faust“will es Profis und Laien, große und kleine, bekannte und unbekannte Akteure des Münchner Kultur- und Stadtlebens zusammenführen. Ein Blick ins Programm deutet an, dass dieses Vorhaben gelingen kann: Mehr als 200 Institutionen und Kreative beteiligen sich und präsentieren mehr als 500 „Faust“-Beiträ- ge über München verteilt. Die renommierten Kulturinstitute sind ebenso dabei wie Theatermacher der Off-Szene, Amateure, Museen, Gastronomie, Einzelhandel, eine Großbrauerei mit „Weizenbock“.
Das Residenztheater etwa zeigt den Klassiker in einer Inszenierung von Intendant Martin Kusej. Sie zeichnet Faust als Irrenden, der in seiner unstillbaren Suche nach dem ultimativen Kick ein Abbild des modernen Menschen ist, in all seiner Selbstüberschätzung. Auch die Akademie der Schönen Künste, die Oper, das Gärtnerplatztheater, die Goethe-Gesellschaft und das Stadtmuseum widmen sich dem Thema.
Dabei machen die Künstler nicht bei Goethes Betrachtung halt. Der Dichter war weder der erste noch der einzige, der sich mit der Figur des Doktor Faustus beschäftigt hat: Der Stoff des erkenntnisstrebenden Menschen taucht bereits im 16. Jahrhundert in Europa auf, und der britische Dichter Christopher Marlowe brachte ihn zu dieser Zeit auch zum ersten Mal auf die Bühne. Die Gretchen-Tragödie aber führte erst Goethe 1808 ein. Er verlieh dem Stoff damit neue Popularität. Seither haben sich weitere Autoren des Stoffes angenommen – von Thomas Mann bis Elfriede Jelinek.
Auf diese breite Rezeption lassen sich die Festivalkünstler auf individuelle Art und Weise ein. Die „Erzählstube“bringt Faust in die Wohnzimmer; die Graffiti-Künstler von „Herakut“übertragen „Faust“-Motive in die urbane Kunst. Die Assoziationen zum Stoff reichen bis zu Don Juan, den das spanische Kulturzentrum Instituto Cervantes als Fausts Bruder ausmacht. Selbst in kuriose Verbindungen führt die Faust’sche Sinnsuche: Das Deloitte Blockchain Institute etwa will in seinem Vortrag „Wahrheit, Währung und Unsterblichkeit“(23. Januar) Parallelen zwischen Goethe und der neuen digitalen Technologie herausarbeiten.
Und der Bayerische Rundfunk begleitet das Festival im Radio – mit Features und Musik. All die Puzzleteile versprechen am Ende einen Gesamtblick mit überraschenden Facetten und neuen Zugängen zu dem Jahrtausendwerk. Vielleicht erhascht der Besucher auch einen Einblick in das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Kim ist 14, durchschnittlich hübsch, durchschnittlich klug und auch sonst so, wie viele andere in ihrem Alter. Oder doch nicht? Bei einer Lesung, zu der die ganze Klasse gezwungenermaßen geht, hat sie ein Aha-Erlebnis. Was die unscheinbare Autorin vorliest, hört sich an wie Kims Leben und ihre Ansichten. Womöglich auch wie ihre Zukunft? Kim ist elektrisiert. Alles da: Die getrennten Eltern, die magersüchtige Mutter, die neue Freundin des Vaters. Da fehlen selbst ihrer superklugen Freundin Petrowna die Worte. Woher weiß die Autorin das alles? Und was ist mit dem Jungen, mit Jonathan, der im Buch ein schlimmes Ende nimmt? Kim fühlt sich plötzlich verantwortlich für ihren Mitschüler Jasper, in dem sie Jonathan zu erkennen glaubt. Schließlich hat Petrowna eine Idee, wie sich das Schicksal womöglich austricksen lässt…
Alina Bronsky hat einen ziemlich schrägen Roman geschrieben, mit witzigen Dialogen und viel Situationskomik. Über das Formulieren und das Lesen, über das Erwachsenwerden, die Austauschbarkeit mancher Schicksale und die Suche nach der eigenen Identität. Und ganz nebenbei nimmt Bronsky auch die eigene Berufsgruppe aufs Korn. Ihre Leah Eriksson wirkt wie die Karikatur einer Autorin, die darauf angewiesen ist, mit ihrer Schreiberei Geld zu verdienen und dafür gnadenlos die Leben anderer Menschen auszuplündern. (li)
dtv, 199 Seiten, 16,95 Euro – ab 12
Sie sind 13 Jahre alt, eigentlich genau in dem Alter, in dem ihre Altersgenossinnen und -genossen Eltern und Lehrer auf Geduldsproben stellen. Doch Shuya und Wenhua sind eben keine europäischen Jugendlichen; die beiden wachsen in einer Großstadt in Zentralchina auf. Und da ist nichts von jugendlichem Übermut zu spüren. Im Gegenteil. Für das zarte Mädchen und den klugen Jungen besteht das Leben aus Lernen. Leistung ist angesagt, und wer bei Prüfungen versagt, kommt außen vor. Eine Solidargemeinschaft gibt es nicht. Deshalb hat Shuya auch so große Angst vor den Prüfungen, und deshalb zeigt Wenhua ihr seine Liebe: indem er ihr seine Übungsbögen ausleiht. Beide kennen keine Freizeit, kei- nen Feiertag. Manchmal arbeiten sie die Nacht durch, auch um die Eltern nicht zu enttäuschen. Als Shuya dann trotz allen Fleißes in einer Prüfung versagt, denkt sie daran, sich von einer Brücke zu stürzen. Sie fühlt sich schuldig, weil nun ihre Mutter, die so viel Vertrauen in sie gesetzt und so viele Entbehrungen für sie auf sich genommen hatte, ihr Gesicht verlieren könnte. Wenhua aber bringt sie zum Nachdenken über den Sinn der Plackerei.
Anna Yiulan Zeeck gibt mit ihrem Buch „Jener Sommer“Einblick in eine uns fremde Lebenswelt, in der nur Leistung zählt. Aber die beiden Protagonisten bleiben dem Leser fremd – so fremd, dass ihr Schicksal die Leser weitgehend kalt lässt. Schade. (li)
Desina, 136 Seiten – ab 10