Zurück zur Geborgenheit?
Darin, dass Heimat auch politisch wieder ein Thema ist, offenbart sich ein grundlegender Wandel: Das Streben nach Selbstverwirklichung wird zusehends durchsetzt von der Sorge, sich selbst zu verlieren
Ein schönes Wort: Geborgenheit. Es klingt altmodisch, aber fasst doch ein Problem an der Schwelle der Gegenwart in die Zukunft. Denn: Was passiert, wenn sie fehlt?
Wenn in den Debatten über eine neue Sehnsucht nach Heimat immer wieder betont wird, wie speziell deutsch dieser Begriff ist, wie viel mehr noch trifft das auf Geborgenheit zu! Wer nach Übersetzungen sucht, landet im Ungefähren zwischen Sicherheit und dem Verborgenen. Dabei bleibt das Besondere der Geborgenheit meist unberücksichtigt: das Indirekte, das Reflexive. Als Ergebnis einer Bergung fühlen wir uns, sind wir geborgen – in etwas, bei jemandem.
Das führt unweigerlich zum Kern eines aktuellen Problems. Denn die traditionellen Antworten auf die Fragen, worin und bei wem wir uns geborgen fühlen, weisen auf im modernen Leben längst wankende Institutionen: auf Familie und Religion. Die Familie verwurzelte den Menschen unmittelbar, die Religion verortete ihn im Großen und Ganzen, sogar über den Tod hinaus. Das sorgte für Ordnung und Orientierung, aber eben auch für Verstandenwerden und Aufgehobensein.
Gegen die unweigerlichen Beschränkungen dieses Welt- und Menschenbildes aber waren bereits die Ideale der Aufklärung gerichtet, und gut 200 Jahre später sind die genannten Instanzen kaum noch relevant. Befördert von den unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten der Selbstverwirklichung in einer globalisierten und digitalisierten Zeit und in (neo-)liberalen Gesellschaften schmelzen die Reste der alten, unmittelbaren Ordnung und der überirdischen Orientierung dahin.
Doch „Soziale Netzwerke“können, trotz noch so vieler „Likes“, letztlich nicht für Geborgenheit sorgen. Und sehr viele Menschen sind bis ins 21. Jahrhundert eben doch geblieben, was US-Soziologen „Somewheres“statt „Anywheres“nennen: also nicht mobile, in sich gefestigte Existenzen, sondern Wesen, die eine örtliche Verwurzelung brauchen. Und so leben an diesem Kipppunkt der Moderne zwar meist nicht die Originale der Verortung wieder auf, also Familie und Religion – aber Rückbesinnung herrscht dennoch. Und zwar auf Werte, die zumeist bereits in den Verfallsstadien auf dem Weg in die Gegenwart wurden. Für Geborgenheit nämlich sollen unter anderem sorgen: die Natur, die Liebe und die Nation – Werte der Romantik, die damals aber noch im Zeichen der Befreiung standen.
Ihre heutige Konjunktur ist Zeichen einer ganz anderen Verklärung. Die Liebe etwa soll (mitunter quasi-religiös) aus den vielfältigen Verstrickungen der Gesellschaft erlösen, deren verschiedene Rollenanforderungen kaum noch zu einer stimmigen Identität zusammenzubringen sind. Doch können Beziehungen gerade dieser Hypothek kaum noch standhalten. Die Natur soll die (nicht minder quasi-religiöse) Antwort auf die Verwurzelung des Menschen liefern, eine Besinnung auf das Wesentliche, Ursprüngliche, Gesunde. Aber zumeist ermöglicht das Idealbild eines gezähmten Bio-Paradieses nur eine private, gewissensberuhigende Distanzierung von der Zerstörung der Erde. Die Nation schließlich soll (nur in den schlimmsten Fällen quasi-religiös) aus dem Volk eine vergrößerte, familiäre Schicksalsgemeinschaft formen, die ihre Heimat vor den Unbilden der Welt zu bewahren habe – aber darin liegt nur der Wunsch nach Rückzug aus einer darüber hinausweisenden Verantwortung, die Abgrenzung gegen längst unumkehrbare Heterogenität der Gesellschaft und der gefährliche Kern einer Identifikation von Ich und Volk, die im absoluten Extrem auch schon in eine Identifikation von Volk und Führer mündete.
Zu diesen verklärenden Rückbesinnungen hinzugekommen sind (meist explizit quasi-religiöse) Trends der reinen Selbstverwirklichung, die typgerecht Geborgenheit im Spirituellen oder im Körper verheißen. Sie führen im Kern meist auf das zurück, was bereits in den Übersetzungen zu Beginn aufschien: die Sicherung (der eigenen Gesundheit) und das Verbergen (vor der existendurchlaufen ziellen Unsicherheit). Und allesamt, ob älter oder neuer, sollen diese Strategien ein Sich-Verlieren in der wachsenden Komplexität einer so offen erscheinenden und dabei so haltlos wirkenden Welt verhindern. Aber was sonst soll der moderne Mensch diesen Tendenzen auch noch entgegenzusetzen haben?
Statt Geborgenheit umgeben ihn die Aussichten auf lückenlose Überwachung und die Angst vor unüberschaubarer Gefährdung. Und digital oder konkret droht beides bis ins Privateste hineinzureichen. Woher noch Orientierung und Ordnung gewinnen, wenn nicht aus solchen Rückzügen? Wo diese doch zumindest in ihren Szenen, mit ihren Codes und Glaubenssätzen Resonanzräume zur Selbstvergewisserung bieten? Kann es, muss es gar ein echtes Zurück zu den traditionellen Instanzen der Geborgenheit geben – aus der Freiheit heraus?
Wahrscheinlich können das am wenigsten die Menschen beantworten, die an der Schwelle dieses Umbruchs leben. Bedrängt von Gewissheiten wie der, als erste Generation etwa die Folgen des Klimawandels zu erfahren und womöglich als letzte etwas dagegen unternehmen zu können; bedrängt von Gewissensnöten wie der, dass die Kinder und Kindeskinder dereinst fragen könnten, warum sie nichts unternommen haben, wo doch alle verhängnisvollen Entwicklungen offensichtlich waren. Vielleicht bleibt da nur die ehrliche Antwort: Wir waren überfordert – und hatten zu viel mit uns selbst zu tun.
Was zu lernen wäre: Wo Geborgenheit fehlt, übernimmt die Angst leicht die Regie – und das mündet nur in Verdrängungsstrategien. Zu erinnern wäre: Geborgenheit ist etwas Reflexives – sie muss auch gegeben werden. Die Antwort auf das Wanken der Welt kann nie das Selbst, sondern nur der Nächste sein. Und für das Weitere: dass die Heutigen den Künftigen nicht durch verzweifelte Kontrolle ihre Zweifel vererben – sondern sie in Vertrauen bergen. Denn auch für die Heutigen führt die Geborgenheit nicht über das Festhalten an Gegenwart oder Vergangenheit – sondern nur über die Menschen, denen die Zukunft gehört.