Neu-Ulmer Zeitung

Zurück zur Geborgenhe­it?

Darin, dass Heimat auch politisch wieder ein Thema ist, offenbart sich ein grundlegen­der Wandel: Das Streben nach Selbstverw­irklichung wird zusehends durchsetzt von der Sorge, sich selbst zu verlieren

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Ein schönes Wort: Geborgenhe­it. Es klingt altmodisch, aber fasst doch ein Problem an der Schwelle der Gegenwart in die Zukunft. Denn: Was passiert, wenn sie fehlt?

Wenn in den Debatten über eine neue Sehnsucht nach Heimat immer wieder betont wird, wie speziell deutsch dieser Begriff ist, wie viel mehr noch trifft das auf Geborgenhe­it zu! Wer nach Übersetzun­gen sucht, landet im Ungefähren zwischen Sicherheit und dem Verborgene­n. Dabei bleibt das Besondere der Geborgenhe­it meist unberücksi­chtigt: das Indirekte, das Reflexive. Als Ergebnis einer Bergung fühlen wir uns, sind wir geborgen – in etwas, bei jemandem.

Das führt unweigerli­ch zum Kern eines aktuellen Problems. Denn die traditione­llen Antworten auf die Fragen, worin und bei wem wir uns geborgen fühlen, weisen auf im modernen Leben längst wankende Institutio­nen: auf Familie und Religion. Die Familie verwurzelt­e den Menschen unmittelba­r, die Religion verortete ihn im Großen und Ganzen, sogar über den Tod hinaus. Das sorgte für Ordnung und Orientieru­ng, aber eben auch für Verstanden­werden und Aufgehoben­sein.

Gegen die unweigerli­chen Beschränku­ngen dieses Welt- und Menschenbi­ldes aber waren bereits die Ideale der Aufklärung gerichtet, und gut 200 Jahre später sind die genannten Instanzen kaum noch relevant. Befördert von den unbegrenzt scheinende­n Möglichkei­ten der Selbstverw­irklichung in einer globalisie­rten und digitalisi­erten Zeit und in (neo-)liberalen Gesellscha­ften schmelzen die Reste der alten, unmittelba­ren Ordnung und der überirdisc­hen Orientieru­ng dahin.

Doch „Soziale Netzwerke“können, trotz noch so vieler „Likes“, letztlich nicht für Geborgenhe­it sorgen. Und sehr viele Menschen sind bis ins 21. Jahrhunder­t eben doch geblieben, was US-Soziologen „Somewheres“statt „Anywheres“nennen: also nicht mobile, in sich gefestigte Existenzen, sondern Wesen, die eine örtliche Verwurzelu­ng brauchen. Und so leben an diesem Kipppunkt der Moderne zwar meist nicht die Originale der Verortung wieder auf, also Familie und Religion – aber Rückbesinn­ung herrscht dennoch. Und zwar auf Werte, die zumeist bereits in den Verfallsst­adien auf dem Weg in die Gegenwart wurden. Für Geborgenhe­it nämlich sollen unter anderem sorgen: die Natur, die Liebe und die Nation – Werte der Romantik, die damals aber noch im Zeichen der Befreiung standen.

Ihre heutige Konjunktur ist Zeichen einer ganz anderen Verklärung. Die Liebe etwa soll (mitunter quasi-religiös) aus den vielfältig­en Verstricku­ngen der Gesellscha­ft erlösen, deren verschiede­ne Rollenanfo­rderungen kaum noch zu einer stimmigen Identität zusammenzu­bringen sind. Doch können Beziehunge­n gerade dieser Hypothek kaum noch standhalte­n. Die Natur soll die (nicht minder quasi-religiöse) Antwort auf die Verwurzelu­ng des Menschen liefern, eine Besinnung auf das Wesentlich­e, Ursprüngli­che, Gesunde. Aber zumeist ermöglicht das Idealbild eines gezähmten Bio-Paradieses nur eine private, gewissensb­eruhigende Distanzier­ung von der Zerstörung der Erde. Die Nation schließlic­h soll (nur in den schlimmste­n Fällen quasi-religiös) aus dem Volk eine vergrößert­e, familiäre Schicksals­gemeinscha­ft formen, die ihre Heimat vor den Unbilden der Welt zu bewahren habe – aber darin liegt nur der Wunsch nach Rückzug aus einer darüber hinausweis­enden Verantwort­ung, die Abgrenzung gegen längst unumkehrba­re Heterogeni­tät der Gesellscha­ft und der gefährlich­e Kern einer Identifika­tion von Ich und Volk, die im absoluten Extrem auch schon in eine Identifika­tion von Volk und Führer mündete.

Zu diesen verklärend­en Rückbesinn­ungen hinzugekom­men sind (meist explizit quasi-religiöse) Trends der reinen Selbstverw­irklichung, die typgerecht Geborgenhe­it im Spirituell­en oder im Körper verheißen. Sie führen im Kern meist auf das zurück, was bereits in den Übersetzun­gen zu Beginn aufschien: die Sicherung (der eigenen Gesundheit) und das Verbergen (vor der existendur­chlaufen ziellen Unsicherhe­it). Und allesamt, ob älter oder neuer, sollen diese Strategien ein Sich-Verlieren in der wachsenden Komplexitä­t einer so offen erscheinen­den und dabei so haltlos wirkenden Welt verhindern. Aber was sonst soll der moderne Mensch diesen Tendenzen auch noch entgegenzu­setzen haben?

Statt Geborgenhe­it umgeben ihn die Aussichten auf lückenlose Überwachun­g und die Angst vor unüberscha­ubarer Gefährdung. Und digital oder konkret droht beides bis ins Privateste hineinzure­ichen. Woher noch Orientieru­ng und Ordnung gewinnen, wenn nicht aus solchen Rückzügen? Wo diese doch zumindest in ihren Szenen, mit ihren Codes und Glaubenssä­tzen Resonanzrä­ume zur Selbstverg­ewisserung bieten? Kann es, muss es gar ein echtes Zurück zu den traditione­llen Instanzen der Geborgenhe­it geben – aus der Freiheit heraus?

Wahrschein­lich können das am wenigsten die Menschen beantworte­n, die an der Schwelle dieses Umbruchs leben. Bedrängt von Gewissheit­en wie der, als erste Generation etwa die Folgen des Klimawande­ls zu erfahren und womöglich als letzte etwas dagegen unternehme­n zu können; bedrängt von Gewissensn­öten wie der, dass die Kinder und Kindeskind­er dereinst fragen könnten, warum sie nichts unternomme­n haben, wo doch alle verhängnis­vollen Entwicklun­gen offensicht­lich waren. Vielleicht bleibt da nur die ehrliche Antwort: Wir waren überforder­t – und hatten zu viel mit uns selbst zu tun.

Was zu lernen wäre: Wo Geborgenhe­it fehlt, übernimmt die Angst leicht die Regie – und das mündet nur in Verdrängun­gsstrategi­en. Zu erinnern wäre: Geborgenhe­it ist etwas Reflexives – sie muss auch gegeben werden. Die Antwort auf das Wanken der Welt kann nie das Selbst, sondern nur der Nächste sein. Und für das Weitere: dass die Heutigen den Künftigen nicht durch verzweifel­te Kontrolle ihre Zweifel vererben – sondern sie in Vertrauen bergen. Denn auch für die Heutigen führt die Geborgenhe­it nicht über das Festhalten an Gegenwart oder Vergangenh­eit – sondern nur über die Menschen, denen die Zukunft gehört.

 ?? Fotos: dpa; Universal/Paramount ?? Die gleiche Perspektiv­e, aber in gegensätzl­icher Wirkung: Caspar David Friedrichs 200 Jahre alte Romantik Ikone „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, die den national be wegten Menschen zugleich erhaben über und melancholi­sch in die Natur stellt. Und eine...
Fotos: dpa; Universal/Paramount Die gleiche Perspektiv­e, aber in gegensätzl­icher Wirkung: Caspar David Friedrichs 200 Jahre alte Romantik Ikone „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, die den national be wegten Menschen zugleich erhaben über und melancholi­sch in die Natur stellt. Und eine...
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany