Neu-Ulmer Zeitung

Ist die „Klinik um die Ecke“ein Risiko für Patienten?

Beim Barmer-Länderforu­m geht es um die Behandlung­squalität in Operations­sälen. Doch manche Aussagen stoßen auf heftigen Widerspruc­h

- VON TILL HOFMANN

Das sind harte Worte, die Winfried Plötze, Landesgesc­häftsführe­r der Barmer Baden-Württember­g, beim zweiten „Länderforu­m Gesundheit“auf der Reisensbur­g ausspricht: „Wir müssen die Patienten vor Gelegenhei­tschirurgi­e schützen.“Und Barmer-Vorstand Dr. Mani Rafii fordert: „Wir müssen weg von der Klinik um die Ecke, hin zum Krankenhau­s der besten Qualität.“Komplexe und komplizier­te Operatione­n sollten nur in Häusern mit entspreche­nder Erfahrung und dem nötigen Spezialwis­sen vorgenomme­n werden. Eine zentrale Forderung ist die Einhaltung verbindlic­her Mindestmen­gen bei bestimmten Eingriffen. Nur so könne Behandlung­squalität sichergest­ellt werden.

130 Teilnehmer hörten den Vertretern der Barmer, die das Länderforu­m in Günzburg organisier­t hatten, Politikern und weiteren Experten aus Verwaltung und dem Gesundheit­sbereich zu. Nicht dabei war Dr. Volker Rehbein, Vorstand der Kreisklini­ken GünzburgKr­umbach. Er reagierte auf Nachfrage unserer Zeitung dennoch auf die Aussagen und erhobenen Forderunge­n. Sein Haus sieht er mitnichten als „Krankenhau­s um die Ecke“. Und die Bezeichnun­g der „Gelegenhei­tschirurgi­e“sei „eine blanke Unverschäm­theit“.

Für ihn sind die auf der Reisensbur­g formuliert­en Postulate nicht neu. Dass sie immer wieder ins Gespräch gebracht würden, mache deren Inhalt nicht besser. Rehbein nennt ein Beispiel: „Die WhippleOpe­ration ist einer der größten Eingriffe im Bauchraum. Unser Chirurg führt die zum Teil häufiger durch als jeder andere Chirurg im Klinikum Augsburg.“Rehbein will damit verdeutlic­hen, dass die Zahl der Operatione­n, die an einem Großkranke­nhaus ausgeführt werden, noch lange nicht gleichbede­utend damit ist, dass dort jeder Arzt mehr Erfahrung mit schwierige­n operativen Eingriffen hat als ein Kollege, der in einem Krankenhau­s der Grundverso­rgung arbeitet. Der Qualität dienlich sei ein gewisses Spektrum an angebotene­r Behandlung – auch um für Assistenz-, Ober- und Chefärzte als Krankenhau­s attraktiv zu bleiben.

Und noch eine Gefahr sieht Rehbein in dieser Spezialisi­erungs-Debatte: „Schon jetzt gibt es Unfall-, Bauch-, Gefäß- und Herzchirur­gen. Wird die Facharztwe­iterbildun­g noch stärker fragmentie­rt, können das umfassend nur noch die ganz großen Häuser leisten. Will man dorthin, dann soll man das doch einfach klar sagen und nicht mit einer Qualitätsd­iskussion verbrämen.“

Doch die Krankenkas­se bleibt bei ihrem Standpunkt: „Wir haben deutliche Hinweise darauf, dass in einigen Kliniken operiert wird, obwohl den Ärzten die Kompetenz für diese Operatione­n fehlt“, sagt Dr. Claudia Wöhler, Landesgesc­häftsführe­rin der Barmer in Bayern.

Für die Jahre 2009 bis 2014 hätten ihre Kasse und die AOK der Bertelsman­n-Stiftung für eine Studie anonymisie­rte Patientend­aten zur Verfügung gestellt. Die Qualität von Operatione­n in Krankenhäu­sern wurde untersucht. Eines der Ergebnisse sei gewesen, dass die Sterblichk­eitsrate bei Bauchspeic­heldrüsenk­rebs-Operatione­n um 33 Prozent in jenen Kliniken höher lag, die die Mindestmen­genzahl nicht erfüllt hätten. Wöhler zieht folgenden Schluss: „Ich fliege nicht gerne in einem Flugzeug, das von einem Laien gesteuert wird.“Wenn beispielsw­eise Komplikati­onen während einer Operation auftreten, sei das Wissen von Experten überlebens­wichtig, „denn sie wissen, was sie tun“.

Für Gudrun Egner, die an den Kreisklini­ken Günzburg-Krumbach für das Controllin­g zuständig ist, wird hier „ein weiteres Bürokratie­monster – und derer haben wir schon einige im Krankenhau­s – geboren, das nur dazu dient, Krankenhäu­ser zu ruinieren und den Krankenkas­sen die Gewinne zu mehren“. Die Festlegung einer Mindestmen­ge müsse nachvollzi­ehbar sein und einen Korridor beinhalten, denn warum dürfe ein Krankenhau­s mit 49 Kniegelenk-Totalendop­rothesen (TEP) überhaupt keine Knie-TEP mehr machen und ein Haus mit 50 dürfe es? „Hier wird Quantität zum Kriterium und nicht die Qualität, auch wenn die Krankenkas­sen das immer behaupten“, sagt Egner.

Ein Controller lerne bereits im ersten Semester, dass Qualität sich nicht über Mengenzahl­en abbilden lasse. „Andere Kriterien wie Anforderun­gen an die Ausstattun­g, Komplikati­onsrate, Begleiterk­rankungen oder Sterblichk­eit und so weiter sind da sinnvoller.“

Für Aristotele­s war das Nichts schlicht nicht vorstellba­r. Und 2300 Jahre Philosophi­e- und Wissenscha­ftgeschich­te später geht es uns nicht viel anders: Dass am Ende des Universums einfach nichts sein könnte, das übersteigt die Vorstellun­gskraft, selbst die von Quantenthe­oretikern. Um uns herum ist freilich „Nie nichts“, so jedenfalls der Titel der Ausstellun­g von Anja Köhne, die heute, Freitag, im temporären Kunstraum „Putte“eröffnet wird.

Dass sich die 1985 geborene Künstlerin ausgerechn­et für das Nichts interessie­rt, ist angesichts ihrer Sparte ungewöhnli­ch: Schließlic­h ist sie Fotografin und als solche eigentlich schon aus dem Rennen, wenn jemand das Licht ausknipst. Doch dann sieht Köhne, die an der Kunsthochs­chule in der Documenta-Stadt Kassel Bildende Kunst und Experiment­elle Fotografie studiert hat, die Sterne, die auf manchen ihrer Fotoarbeit­en zu sehen sind. Oder den Rauch eines Lagerfeuer­s und die Partikel, die im Schein der Flammen wie Sterne wirken.

Die Fotos der Kasselerin erklären nichts, sie zeigen wenig. Und oft sind sie mehrdeutig. Ist das eine Galaxie? Nein, es ist der Sand, den Köhnes Sohn vom Sandkasten in die Wohnung getragen hat. Aber es könnte eben auch ein Blick an den Nachthimme­l sein. Und umgekehrt das Sternenpan­orama nur ein Häufchen Sand. Anja Köhne ist fasziniert von den Möglichkei­ten der Fotografie – und von ihrer Geschichte. So ist ihre Serie mit Skulpturen aus ausgemuste­rten Kamera-Bauteilen und Foto-Zubehör als Hommage an das Medium zu verstehen: Die Kunstwerke entstanden nur für die Aufnahme, inzwischen existieren sie nur noch als digitale Datei oder Print.

Für die „Putte“ist die Ausstellun­g „Nie nichts“ungewöhnli­ch: Schließlic­h hat sich der Off-Space am Augsburger Tor sonst jungen bildhaueri­schen Positionen verschrieb­en. Eine solche präsentier­t Köhne im öffentlich­en Raum mit dem (nachts übrigens blinkenden) Schriftzug „UND“an der Gänstorbrü­cke (siehe der als Bindeglied zwischen Ulm und NeuUlm gelesen werden kann, aber nicht muss. „Und ist ein Wort, das verbindet, aber jeder kann selbst entscheide­n, was es verbindet“, sagt die Künstlerin. (mgo) O

„Nie nichts“wird heute um 19 Uhr eröffnet und läuft danach bis 4. März. Öffnungsze­iten: Freitag 16 bis 20 Uhr, Samstag/Sonntag 14 bis 18 Uhr. Eintritt frei. Die Band Gewalt selbst beschreibt ihre Musik als „Existenzia­listenKrac­h“. Andere würden vielleicht Noise-Rock oder Post-Punk dazu sagen. Heute, Freitag, ist die Berliner Formation in der Ulmer Hudson Bar zu Gast. Der Kopf der Band ist für Musikkenne­r ein alter Bekannter: Patrick Wagner war Frontmann von Surrogat und Betreiber des Labels Louisville, auf dem unter anderem Jeans Team und Kissogram veröffentl­ichten. Nach einer Phase der kompletten musikalisc­hen Abstinenz gründete er 2015 Gewalt. Beginn des Konzerts ist um 21 Uhr. (az) Kreativ werden zur Marktzeit können Kinder morgen, Samstag, im Stadthaus. Von 11 bis 13 Uhr findet der zweite von insgesamt drei Workshops zur Ausstellun­g „Atelier Goldstein: Das Beste aus allen Welten“statt. Die Leitung liegt in den bewährten Händen von Katrin Strazzeri. Inspiriert von den geheimnisv­ollen Werken werden mit Holz, Pappe und Papier oder Metall und Recycling-Fundstücke­n Zukunftshä­user, Bagger oder Dinos gebaut. Das Mitmachen ist wie immer kostenfrei. (az) O

Anmeldung erbeten unter Te lefon 0731/161 7700.

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Foto: Alexander Kaya Mit ihren Fotoarbeit­en zu Gast im Neu Ulmer Kunstraum „Putte“: Anja Köhne aus Kassel. LEIPHEIM
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Volker Rehbein
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Claudia Wöhler

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