Neu-Ulmer Zeitung

Im neuen Leben geht es vor allem um eines: Normalität

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anderen Fällen schreitet das Jugendamt ein, weil die Eltern alkoholode­r drogenabhä­ngig sind, weil es Gewalt oder Missbrauch in der Familie gibt. Viele Kinder haben traumatisc­he Erfahrunge­n in ihren Familien gemacht, sagt Silvia Dunkel vom Münchner Jugendamt. „Dann kommt es darauf an, möglichst viel Normalität für sie herzustell­en.“

Die Pflegefami­lie kann für diese Kinder zum Wendepunkt im Leben werden, sagt Daniela Reimer von der Universitä­t Siegen, die untersucht hat, wie sich das Leben von Pflegekind­ern bis ins Erwachsene­nalter hinein entwickelt. Dafür müssten Kinder in der Pflegefami­lie ihre Persönlich­keit entwickeln dürfen, sich akzeptiert, aufgehoben und als gleichwert­iges Familienmi­tglied fühlen. So, wie das bei Mona war.

Und doch ist da dieses ewige Rätsel. Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter hat Mona nicht, nicht einmal eine Adresse oder Telefonnum­mer. Natürlich sind da die Fragen, die sich Mona immer häufiger stellt, je älter sie wird: Sieht sie ihrer Mutter ähnlich? Was hat sie mit ihr gemeinsam? Was verbindet sie? Über Jahre versucht sie, mithilfe ihrer Vormundin Kontakt zur Mutter aufzubauen. Sie macht ihren Onkel ausfindig, bekommt eine Adresse, wo ihre Erzeugerin leben könnte, schreibt gemeinsam mit ihrer Therapeuti­n einen Brief an die Mutter – ohne Vorwürfe, aber mit dem Vorschlag, dass sie sich doch einmal treffen könnten. Eine Antwort bekommt sie nicht.

Mona blickt nach links, auf den Stuhl neben sich, wo ihr Onkel El- mar sitzt. Er ist der Bruder ihrer leiblichen Mutter. Sie hat ihn über Umwege ausfindig gemacht. „Da ist sehr viel Ähnlichkei­t“, sagt der Mann, der den Kontakt zu seiner Schwester verloren hatte. „Das Aussehen, die Figur, diese lebensfroh­e Art. Mona hat all die guten Seiten meiner Schwester.“Onkel Elmar war es auch, der Mona vor einem Jahr die Nachricht überbracht hat, dass ihre Mutter gestorben ist. Mona war bei der Beerdigung. Und sie hat es mit der Zeit auch geschafft zu trauern. „Da war viel Wut dabei“, sagt Elke Brehm. Über die Mutter, die Mona nie kennenlern­en durfte, die Fragen, auf die sie nie Antworten bekommen wird.

Ihr Onkel Elmar wiederholt, was er an diesem Nachmittag schon ein paar Mal gesagt hat: „Mona hätte keine bessere Familie finden können.“Ob sie es trotzdem schwerer gehabt hat? Schwerer als andere Kinder, die in einer ganz normalen Familie groß werden? Die 19-Jährige schüttelt energisch den Kopf.

Vielleicht stellt sich diese Frage auch gar nicht, in einer Familie, in der noch andere Pflegekind­er leben. Anika, 16, kam ebenfalls als kleines Kind zu den Brehms. Elias war sechs Jahre lang bei der Augsburger Familie. Heute lebt der autistisch­e Junge in einer Wohngruppe.

Mona hat ihren Weg gefunden. Die 19-Jährige weiß, was sie will. Sie macht eine Ausbildung zur Erzieherin, ist in ihrer Freizeit bei der Feuerwehr aktiv und betreut selbst Pflegekind­er, die auf Ferienfrei­zeiten fahren. Elke Brehm ist stolz auf die Pflegetoch­ter, auf ihre „Süße“. Die Brehms haben versucht, alle Kinder gleich zu behandeln – ob den leiblichen Sohn oder die Pflegekind­er. Sie sind dankbar, dass sie den Kindern etwas mitgeben konnten. „Wir bräuchten mehr Eltern, die bereit sind, Pflegekind­er aufzunehme­n.“

Obwohl es in Deutschlan­d so viele Pflegekind­er wie nie gibt, finden sich zu wenige Familien, die fremden Kindern ein Zuhause auf Zeit geben wollen. Johann Bauer und Beate Götz von der St.-Gregor-Jugendhilf­e in Augsburg kennen das Problem nur zu gut. Die Einrichtun­g vermittelt seit 2005 Gastfamili­en – ein Konzept, das über die Pflegefami­lie hinausgeht und in Schwaben einmalig ist.

Es richtet sich an ältere Kinder, die mehr Betreuung benötigen, und Familien, die daher deutlich mehr Fachberatu­ng bekommen. „Wir haben Kinder, die sich anders verhalten“, sagt Beate Götz. Buben und Mädchen, die es im eigenen Elternhaus schwer hatten, die in ihrem Zuhause Schlimmes erlebt haben. Manche sind in ihrer Entwicklun­g verzögert. Andere finden kaum Freunde, sind aggressiv oder nässen auch im Schulalter jede Nacht ein. „Diese Kinder brauchen Stabilität. Und Familien, die viel aushalten können“, sagt Götz.

15 Gastfamili­en rund um Augsburg stehen in der Kartei der St.Gregor-Jugendhilf­e. Benötigt würden mindestens noch einmal so viele. Allein in den Weihnachts­ferien hat Johann Bauer, der Bereichsle­iter für Heimerzieh­ung, fünf Anrufe bekommen. Fünf Fälle, für die es keine passende Familie gab. Für ihn und seine Kollegin Beate Götz geht es vor allem darum, für das Kind die richtige Gastfamili­e zu finden und nicht umgekehrt.

Die Gasteltern, die eine höhere Aufwandsen­tschädigun­g bekommen als Pflegeelte­rn, müssen sich im Klaren darüber sein, dass das Kind Probleme mitbringt, dass es Zuwendung und Aufmerksam­keit braucht, aber im besten Fall auch den Kontakt zu den eigenen Eltern, zu denen es, wenn möglich, irgendwann zurückkehr­en sollte. Und es geht auch darum, keine falschen Erwartunge­n zu wecken, erklärt Götz: „Wir sagen den Paaren auch: Es wird niemals Ihr eigenes Kind sein.“

Im Fall von Pflegeelte­rn prüft das jeweilige Jugendamt, ob die Familien geeignet sind. Wie genau, das entscheide­t jede Behörde selbst. „Vorbereitu­ngsseminar­e sind häufig eine Bedingung, um die Eltern kennenzule­rnen“, sagt Ursula Rüdiger von „Pfad für Kinder“, dem Landesverb­and der Pflege- und Adoptivfam­ilien in Bayern, der seinen Sitz in Aichach hat. Da geht es um Fragen wie: Was ist ihre Motivation? Was sind die Wünsche an das Pflegekind? Ist die Beziehung stabil genug? Und passt ein Pflegekind in das Leben der Familie?

Leben, davon gibt es im Haus von Alexander und Gisela Merz in Kleinweile­r, einem Ortsteil von Weitnau im Oberallgäu, jede Menge. Als die beiden vor Jahren heirateten, war es undenkbar, dass sie einmal einen Kleinbus für eine Großfamili­e brauchen würden. Da hieß es noch, das Paar könne überhaupt keinen Nachwuchs kriegen.

Von wegen. Heute haben die Eheleute drei Töchter, von denen zwei mittlerwei­le ausgezogen sind. Seit 2004 kamen insgesamt 14 Pflegekind­er hinzu. Buben und Mädchen, denen sie vorübergeh­end ein Zuhause bieten wollten, weil diese bei den eigenen Eltern nicht gut aufgehoben waren.

Für jedes Kind bekommt die Familie eine Pflegepaus­chale. Bei Kindern unter sechs Jahren sind das 792 Euro, ab zwölf Jahren 1028 Euro im Monat. Jeweils 300 Euro davon gehen als „Erziehungs­beitrag“an die Eltern, der Rest ist als Unterhalt für Nahrung, Kleidung und Freizeit gedacht.

„Wenn die Kinder zu uns kommen, tragen sie einen riesengroß­en Rucksack voller Steine“, sagt Gisela Merz. Sie erzählt von Mädchen, die bei der Mutter nur Nüsse, Obst und

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Foto: Karl Josef Hildenbran­d, dpa Jede Menge Leben im Hause Merz: Alexander und Ehefrau Gisela mit ihrer leiblichen Tochter Sandra und Pflegesohn Alois.

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