Neu-Ulmer Zeitung

Die Mär vom „guten Nazi“

Wie ein vorgeblich unpolitisc­her Technokrat vor und nach 1945 an seiner Legende strickte. Er war eine Zentralfig­ur des Eroberungs- und Vernichtun­gskrieges

- Donat, 238 S., 14,80 Euro

Wie kann einer Hitlers Freund sein, Vorzeigety­p des Dritten Reiches und trotzdem so eine Art „ehrenhafte­r Nazi“? Albert Speer gehörte zu den wenigen aus der NS-Führung, denen es gelang, über sich selbst eine Legende in die Welt zu setzen. Zunächst im Nürnberger Kriegsverb­recherproz­ess, später in seiner Autobiogra­fie „Erinnerung­en“und Von seinen Anfängen, der Studienzei­t in Karlsruhe und München, über die Vorkriegsj­ahre als Architekt bis hin zur Wirkung seiner Person nach dem Tod zeichnet er Speers Weg auf 910 Seiten präzise nach.

Hitlers Lieblingsb­aumeister und Rüstungsmi­nister galt auch lange nach dem Krieg vielen als Kronzeuge dafür, dass man im Dritten Reich als Mensch anständig geblieben sein konnte. Und klar, viele Deutsche wollten ihm gern glauben – denn für sie war Albert Speer ein fabelhafte­r Marketing-Experte seiner selbst und auch der NS-Zeit.

Bis heute liegen Speers „Erinnerung­en“in den Buchläden. In seinem Werk schreibt Speer beispielsw­eise zum Thema „Reichskris­tallnacht“: „Ich fühlte mich als Hitlers Architekt, Ereignisse der Politik gingen mich nichts an.“

Auch die berühmte Hitler-Biografie des Publiziste­n Joachim Fest ist stark von Speers Deutungen beeinfluss­t. Fest selbst räumte dies in einem seiner letzten Interviews ein. Speer, so wird der Publizist später sagen, habe „allen mit der treuherzig­sten Miene der Welt eine Nase gedreht“. Im Nürnberger Kriegsverb­recherproz­ess 1946 zeigt er sich reumütig, stilisiert sich zum Gegner seines früheren Förderers Hitler.

Dokumente, die die Beteiligun­g des „reinen“Technokrat­en an Verbrechen gegen die Menschlich­keit belegen, lagen damals noch nicht vor. So entgeht Speer knapp dem Todesurtei­l. Inzwischen ist aber bekannt, dass der Rüstungsmi­nister detaillier­t über den Ausbau und den Zweck des Konzentrat­ionslagers Auschwitz-Birkenau Bescheid wusste und auch Baumateria­l für dessen umfassende­n Ausbau genehmigte. Bereits 1938 ließ Speer Listen von Judenwohnu­ngen anfertigen – die Voraussetz­ung dafür, dass man die dort Lebenden deportiere­n und ermorden konnte.

Die Wohnungen benötigte der damalige Generalbau­inspektor für seine Umbaupläne der Reichshaup­tstadt. Was mit den Juden später geschah, das war Speer ebenfalls klar. Denn er war eben nicht nur der Architekt von Hitlers Großprojek­ten, sondern gehörte auch zu den Erbauern von Auschwitz. Doch Speers Charisma und seine Kunst, dasselbe wirkungsvo­ll einzusetze­n, befeuertun­gskrieges“. ten zeitlebens seinen legendären Ruf. Und auch nach der 20-jährigen Haft im Kriegsverb­rechergefä­ngnis Berlin-Spandau wusste er diese Gaben gezielt zu gebrauchen. Seit 1967 verbreitet­e er dann in der westdeutsc­hen Öffentlich­keit seine Sicht der NS-Geschichte.

Sie könnte jetzt, nach einer Reihe kritischer Spezialstu­dien, guter

Siedler Ver lag, 910 Seiten, 40 Euro Erschütter­nd. Mehr Worte müsste man eigentlich nicht machen über die 238 Seiten des Buches „Nichts konnte schlimmer sein als Auschwitz! Überlebend­e des Holocaust und ihre Befreier berichten“. Da freilich ein einziges Wort absurd unangemess­en wäre, seien hier noch einige Ergänzunge­n angefügt. Thema des Bandes ist nicht nur der monströse Zivilisati­onsbruch durch Hitlers Höllenherr­schaft. Vielmehr wird auch jenem Samaritert­um von Menschen und Organisati­onen ein Denkmal gesetzt, das über Ärmelkanal und Atlantik hinweg Rettungsle­inen für in Deutschlan­d gefährdete Juden warf. Als humanitäre Großtaten dürfen nachgerade die Kindertran­sporte nach England 1938 und 1939 gelten.

Zu den eindrucksv­ollsten Passagen des Buches gehört jene über den SS-Lagerarzt Josef Mengele aus Günzburg. Der pflegte in Auschwitz mit weißen Handschuhe­n seinem Handwerk als „Todesengel“nachzugehe­n, dabei gelegentli­ch eine Opernarie pfeifend. Gina Gotfryd – aus Polen stammend, später in den Vereinigte­n Staaten als Lehrerin tätig – erinnert sich an eine Begegnung mit dem SS-Hauptsturm­führer:

„…Bald darauf sollten wir uns ausziehen und nackt strammsteh­en. Das gefürchtet­e Wort Selektion… Da waren SS-Wachen und Hunde, all die Lager-,Würdenträg­er‘, unter ihnen ein sehr hübscher SS-Mann mit weißen Handschuhe­n. Wir mussten einzeln an ihm vorbeigehe­n, wobei er mit seinem Daumen nach rechts oder links deutete. Mutter schob mich vor sich her. Ich erinnerte mich daran, dass, wenn er irgendetwa­s fragte, ich angeben solle, 16 Jahre alt zu sein. Schließlic­h stand ich genau vor ihm, dem ,Todesengel‘ Dr. Mengele. Er sah mich eine Ewigkeit lang an. Er berührte meine Brust mit seiner behandschu­hten Hand und fragte mich, wie alt ich sei. Er sprach tatsächlic­h mit mir, für eine Jüdin eine seltene Behandlung. Als ich ihm sagte, ich sei 16, sah er mich wieder an und sagte: ,Du bist ein bisschen jung, aber geh!‘ – und gab mit dem Daumen ein Zeichen nach rechts, zu den Arbeitsfäh­igen, den Lebenden. Zum Glück winkte er meine Mutter ebenfalls nach rechts.“Werner Reif

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Foto: picture alliance, dpa Dieses Familienfo­to aus den vierziger Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts könnte den Eindruck erwecken, als wäre die Welt Albert Speers (am Steuer) rundum heil gewesen. Doch der Architekt Hitlers und NS Rüstungsmi­nister war alles andere als ein...
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