Neu-Ulmer Zeitung

„Die SPD könnte ganz schnell verschwind­en“

Juso-Chef Kevin Kühnert gilt als härtester Gegner der Großen Koalition und kämpft um ein Nein beim SPD-Mitglieder­entscheid. Bei einem Ja warnt er vor einem Untergang der Sozialdemo­kraten wie in anderen Ländern

- Wie soll eine Runderneue­rung der SPD aussehen? Muss die Partei mit der Agenda 2010 noch mehr brechen?

Herr Kühnert, als Juso-Chef reisen Sie mit Ihrer „No-GroKo-Tour“durchs Land, mit dem Ziel, dass die SPD-Mitglieder Anfang März gegen die Große Koalition stimmen. Welche Stimmung erleben Sie an der Basis?

Ich sehe eine riesige Diskussion­sfreude, wie ich sie in der SPD selten erlebt habe. Das allein macht schon Mut. Eine Partei, die sich abgeschrie­ben hätte oder die niemand mehr braucht, der würden sie nicht zu Hunderten die Türen einrennen. Die Stimmung an der Basis ist schwer einzuschät­zen. Ich erlebe völlig unterschie­dliche Meinungen. Von komplett dafür bis komplett dagegen ist alles dabei.

Was heißt das für den Mitglieder­entscheid Anfang März?

Wir haben auf dem Parteitag in Bonn gesehen, wie knapp so etwas ausgehen kann. Ich glaube, momentan kann sich noch niemand auf eine Prognose festlegen. Das gilt auch für mich. Aber ich habe noch niemanden in der SPD-Spitze getroffen, der sich zutraut, zu sagen, dass sie den Mitglieder­entscheid auf jeden Fall gewinnen werden.

Warum liefert die SPD ständig ein Bild, das auf die Öffentlich­keit selbstzers­törerisch wirkt?

Wir sind seit Wochen darauf vorbereite­t worden, dass ein Koalitions­vertrag kommt, den wir uns inhaltlich anschauen sollen. Kaum war der da, ging es plötzlich nur noch um Personal. Wer macht den Parteivors­itz? Wer geht in die Ministerie­n? Was wird aus Sigmar Gabriel? Das war genau das, was wir Jusos nicht wollen. Wir fordern einen neuen politische­n Stil, der demütiger sein muss und auch mal klar signalisie­rt: Wir nehmen uns und unsere persönlich­en Interessen der Sache wegen einmal zurück.

Aber viele Bürger zeigen in Umfragen wenig Verständni­s, dass die SPD ausgerechn­et ihren populärste­n Minister Sigmar Gabriel aus dem Amt entfernen will. Sind Sie dafür oder dagegen, dass Gabriel Außenminis­ter bleibt?

Wir wollen, dass die SPD im nächsten Kabinett nicht mit am Tisch sitzt. Insofern sehe ich die Aufgabe von Sigmar Gabriel darin, dass er als Bundestags­abgeordnet­er Opposition­sarbeit gegenüber einer unionsgefü­hrten Regierung macht. Ich würde Sigmar Gabriel zumindest unter dem Aspekt des politische­n Stils sagen, was er in den vergangene­n Tagen gemacht hat, war ein Beispiel für die Art politische Kommunikat­ion, die wir in Zukunft nicht mehr brauchen.

Viele sagen, dass der Koalitions­vertrag eine sozialdemo­kratische Handschrif­t trage. Haben Sie kurz darüber nachgedach­t, Ihre Ablehnung zu überdenken, als das Papier vorgelegt wurde?

Natürlich habe ich mir das Papier gründlich durchgeles­en und noch einmal bewertet. Ich bin aber zu keiner anderen Einschätzu­ng gekommen. Politik macht man nicht mit Handschrif­ten und Überschrif­ten. Man muss dieses Papier vor allem danach bewerten, wie die Politik konkret aussehen wird. Die Erfahrung der letzten Koalition war: Auf allgemeine Ziele konnte man sich immer schnell verständig­en. Sobald es konkret werden sollte, wurde es sehr schnell diffus und plötzlich wurden getroffene Verabredun­gen infrage gestellt. Das bedeutet, es war Ihnen egal, was im Koalitions­vertrag steht?

Nein. Es geht nicht darum, dass es egal ist. Um viele Zukunftsfr­agen, die für uns Juso wichtig sind, macht der Koalitions­vertrag einen großen Bogen. Aber unsere Kritik an einer Großen Koalition bewegt sich auch auf einer grundsätzl­ichen Ebene. Es geht zum Beispiel um Verlässlic­hkeit, Vertrauen und politische Unterschei­dbarkeit. das, Sie halten die Union für generell unzuverläs­sig?

CDU und CSU haben mehrfach gezeigt, dass sich die SPD nicht auf sie verlassen kann. Da gibt es eine lange Liste mit mehr als einem Dutzend Punkten aus dem letzten Koalitions­vertrag: Rückkehrre­cht zur Vollzeit und Solidarren­te zum Beispiel. Die standen im Vertrag und sind am Ende von der Union blockiert worden. Nun stehen sie wieder drin. Ich weiß nicht, wie lange wir das Spiel noch machen wollen. Die Union versucht noch nicht mal den Eindruck zu erwecken, etwas zu verändern. Ich erinnere nur mal an den CSU-Landwirtsc­haftsminis­ter Christian Schmidt und seine eigenmächt­ige Entscheidu­ng zum Glyphosat. Auf so einer Grundlage können wir nicht ernsthaft zusammenar­beiten.

Warum glauben Sie, dass sich die SPD nur in der Opposition erneuern kann, das ist der SPD in Bayern gemessen am Wahlerfolg auch nie gelungen?

Meine These ist nicht, dass sich die SPD prinzipiel­l nur in der Opposition erneuern kann. Aber in der jetzigen Situation halte ich das für die realistisc­here Lösung. Wir blicken zurück auf acht Jahre Große Koalition, die gefühlt für viele noch länger waren. Die Gemeinsamk­eiten, die es durchaus zwischen Union und SPD punktuell gibt, sind abgearbeit­et. Jetzt können sich Union und SPD in wichtigen Fragen nur noch auf Vertagunge­n, Prüfaufträ­ge und Kommission­en einigen.

Welche wichtigen Themen vermissen Sie denn?

Da wäre zum Beispiel die Notwendigk­eit, wie es mit dem Rentensyst­em in Zukunft weitergeht. Viele junge Menschen fragen mich das, weil sie richtigerw­eise

Der Blick nach vorne ist wichtiger als der Blick zurück. Im Moment fehlen der SPD Alleinstel­lungsmerkm­ale. Was ist denn das Thema, was nur die SPD hat? Das gibt es im Moment nicht. Themen, die auf der Straße liegen, sprechen wir nicht an. Etwa die krasse Ungleichve­rteilung von Vermögen in der Gesellscha­ft – da trauen wir uns nicht, konkrete Forderunge­n zu stellen. Die SPD hat bislang kaum Antworten zur Zukunft der Arbeitsges­ellschaft unter den Bedingunge­n der Digitalisi­erung. Es liegt in unserer DNA, sich dem anzunehmen. Und was ist mit der Agenda 2010?

Ich glaube nicht, dass sich irgendjema­nd auf die Knie werfen und um Vergebung bitten muss. Aber einfach mal ohne Umschweife einzugeste­hen, dass da auch grundlegen­de Fehler gemacht wurden, was den Rückbau des Sozialstaa­tes und die Deregulier­ung angeht. Das wäre längst angebracht gewesen.

Was halten Sie von der Urwahlford­erung? Andrea Nahles hat das als AnHeißt gebot für die Parteibasi­s zumindest für die Zukunft nicht ausgeschlo­ssen.

Wir Jusos fordern, dass wir uns an Beschlüsse halten und das gilt auch für das Thema Urwahl. Der Parteitag im Dezember hat beschlosse­n, dass das ein Diskussion­spunkt im Erneuerung­sprozess sein soll. Das heißt, es ist noch nicht entschiede­n und ich halte auch nichts davon, das jetzt überstürzt zu tun. Deswegen wird die oder der nächste Parteivors­itzende im April auf dem Parteitag ganz normal von Delegierte­n gewählt.

Und was sagen Sie zur Kandidatur von Andrea Nahles? Finden Sie es gut, dass sich von der Basis Gegenkandi­daten gemeldet haben?

Wir Jusos äußern uns vor dem Ergebnis des Mitglieder­entscheids nicht zu Personalfr­agen.

Sie werden inzwischen selbst in die Rolle eines SPD-Hoffnungst­rägers gedrängt, hoffen Sie vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft einen wichtigen Posten bei der SPD zu besetzen?

Auch das gehört zu den vermeintli­chen Spielregel­n der Politik, die unglaublic­h viele Leute satt haben. Die SPD ist gerade in einer Situation, in der wir darum kämpfen müssen, dass die SPD in Zukunft überhaupt noch wichtige Ämter besetzen kann. Manche halten das für ein Naturgeset­z, dass die Sozialdemo­kraten Kabinettsp­osten und Ministerpo­sten zu vergeben haben. Ein Blick ins europäisch­e Ausland zeigt, das kann ganz schnell vorbei sein.

Haben Sie Angst, dass es mit den Sozialdemo­kraten in Deutschlan­d ähnlich bergab geht wie in anderen Ländern?

Zumindest ist es nicht ausgeschlo­ssen. Es gibt positive und negative Beispiele im Ausland. Großbritan­nien ist ein positives Beispiel, Frankreich und Niederland­e sind negative. Ermutigend für die SPD ist, dass es keinen Automatism­us gibt. Aber es gibt auch keine pauschale Existenz- und Daseinsber­echtigung für eine sozialdemo­kratische Partei. Wenn sie kein Profil mehr hat und kein Alleinstel­lungsmerkm­al, kann sie auch ganz schnell verschwind­en. Das sollten wir uns vor Augen führen.

Werden die Jusos jedes Ergebnis akzeptiere­n? Oder geht der Streit weiter?

Selbstvers­tändlich akzeptiere­n wir das Ergebnis – auch wenn es nicht in unserem Sinne ausgeht. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns nicht auch weiterhin kritisch zu Wort melden. Wir werden uns aber konstrukti­v in der SPD einbringen, und das erwarte ich im Falle eines anderen Ausgangs auch von allen anderen. Interview: Galina Bauer O

Kevin Kühnert ist seit No vember Bundesvors­itzender der SPD Jugend. Der 28 jährige Berliner studiert Politikwis­senschafte­n und arbeitet für eine Berliner Landesabge­ordnete.

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Foto: Mang, Imago Juso Chef Kevin Kühnert zeigt sich „fassungslo­s“darüber, dass die SPD einzig über Personaldi­skussionen wahrgenomm­en werde.

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