Allerlei Hiebe, allerlei Liebe
Was zwischen dem Großschriftsteller Günter Grass und dem Großkritiker Marcel Reich-Ranicki rund um ihr Zerwürfnis vor sich ging, offenbart jetzt der Briefwechsel
Öffentlich haben sie wie Todfeinde aufeinander eingedroschen, in ihren privaten Briefen aber oft einen anderen, nämlich liebenswürdigen Ton angeschlagen: der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) und der Schriftsteller Günter Grass (1927 – 2015). Mehr als 40 Jahre lang haben sie sich (mit langen Pausen) geschrieben, von 1965 bis zum Jahr 2005. Und Grass hat dem Kritiker sogar mehrfach eigene Grafiken geschenkt.
Nun hat der Literaturwissenschaftler Uwe Neumann den Schriftwechsel akribisch ausgewertet – und liefert unter Einbeziehung weiterer Quellen einen intimen Blick auf die Beziehung zwischen Großliterat und Großkritiker. Was in seinem gut 50-seitigen Aufsatz („Freipass-Forum“im Verlag Ch. Links) besonders überrascht: Ausgerechnet 1995, kurz bevor Grass „Ein weites Feld“, seinen kritischen Roman zur deutschen Wiedervereinigung publiziert, können es die beiden besonders gut miteinander, obwohl der Kritiker seit der „Blechtrommel“(1958) Grass-Prosa immer wieder verrissen hatte – während er dessen Lyrik feierte.
Reich-Ranicki schreibt im Juli 1995 dem Schriftsteller: „Mein lieber Günter, (…) Sie können ganz sicher sein, daß ich Ihren Roman so aufmerksam wie wohlwollend lesen werde. Ich hoffe, wir sehen uns bald und / grüße bestens / Ihr / Marcel Reich“. Der Eklat folgte dann am 21. August: Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel zeigt als Titelbild die Fotomontage eines wütenden RR, der den neuen Grass-Roman in zwei Hälften zerreißt. Im Heft selbst ist die Abrechnung gedruckt. Ein seitens Dritter „häufig geäußerter Kritikpunkt bestand darin, dass ReichRanicki seinem Verriss die Form eines persönlichen Briefes gegeben hatte, den er obendrein mit den Worten ,Mein lieber Günter Grass‘ eröffnete“, sagt Neumann. Statt Zynismus oder erheuchelte Anbiederung zu unterstellen, nimmt Neumann an, „dass Reich-Ranicki in seiner Kritik den vertraulichen Ton der Briefe fortführen wollte“. Nicht von Boshaftigkeit sollte man sprechen, sondern von „mangelhaftem Fingerspitzengefühl“.
Im Februar 1995 hatte RR an Grass geschrieben, eine Lesung aus dem noch nicht veröffentlichten, aber mit Spannung erwarteten Roman „Ein weites Feld“an Grass moderieren zu wollen. In dem Brief ging es um die Details der Lesung in Frankfurt, aber auch um eine Einladung zum Tee oder Kaffee vorab bei RR zu Hause: „Bei mir werden noch zwei, drei Personen sein, aber ausschließlich devote Bewunderer Ihres Talents – so wie meine Frau (…) Daß ich mich auf Ihren Besuch außerordentlich freue, ist die pure Wahrheit und nicht übertrieben. Sehr herzlich / Ihr / Marcel Reich.“
Grass ließ im März wissen, dass er der Einladung zum Tee, in Begleitung seiner Frau Ute, gerne folgen werde. Die Lesung am 25. April verlief triumphal, Grass und RR „umarmten sich verbal“, wie ein Kritiker schrieb. Nach der Lesung gab es minutenlangen Applaus, RR spendete stehend Beifall. „Der päpstliche Segen war erteilt, die von Reich-Ranicki in der Einführung ausgesprochene Hoffnung auf ein ,großes Werk‘ schien sich erfüllt zu haben“, schreibt Neumann.
Zwei Tage nach der Lesung dankte Grass dem Kritiker brieflich „für den freundlichen Empfang“, um dann noch ein Geschenk anzukündigen: „Wie versprochen kommen Ihnen demnächst zwei Radierungen von meiner Hand ins Haus (…)“. Die Radierungen, die RR für seine Sammlung von Schriftstellerporträts erhielt, hätten – so Neumann – ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Kritiker habe sie nach eigenem