Neu-Ulmer Zeitung

Die Abgehängte­n von Kalabrien

Wenn Italien am Sonntag eine neue Regierung wählt, ist vor allem der arme Süden entscheide­nd. Dort aber dominiert der Frust – über die Mafia, die vielen Flüchtling­e, darüber, dass es kaum Arbeit gibt. Viele fragen sich: Was soll ich noch hier?

- VON ANNETTE REUTHER UND JULIUS MÜLLER MEININGEN

„Ciao, Papà. Ciao Mamma.“Domenico Blasco umarmt seine Eltern, wirft sich den Rucksack über die Schulter und steigt in den Bus der Hoffnung, der ihn nach Augsburg bringen soll. Rund 1600 Kilometer und 24 Stunden Fahrt trennen ihn von einem Job, der ihm und seiner Familie ein würdiges Leben ermögliche­n soll. Als Bauarbeite­r. „Was soll ich hier noch?“, sagt der 40-Jährige. „Hier gibt es nichts.“

Crotone heißt der Ort der Aussichtsl­osigkeit, den Blasco so schnell wie möglich verlassen will. Die Stadt mit 65000 Einwohnern liegt ganz im Süden Italiens, an der Stiefelsoh­le. Nirgends sonst im Land ist die Arbeitslos­igkeit so hoch wie in der Region Kalabrien: 29 Prozent sind es, fast dreimal so viel wie in ganz Italien. Bei den jungen Leuten von 23 Prozent und führt sich auf, als seien die vergangene­n zehn Jahre mit Sexskandal­en, letztinsta­nzlicher Verurteilu­ng wegen Steuerbetr­ugs und sein Ämterverbo­t nie geschehen. Über den viermalige­n Ex-Premier schütteln zwar viele den Kopf, erst recht, weil der 81-Jährige wegen seiner Verurteilu­ng nicht kandidiere­n darf, aber trotzdem so tut, als wäre es sein Wahlkampf. In Umfragen kommt seine Forza Italia jedenfalls auf 16 Prozent. Ob es zusammen mit der ausländerf­eindlichen Lega und den nationalis­tischen „Brüdern Italiens“für eine Regierungs­mehrheit reicht? Oder holt die Fünf-Sterne-Bewegung, die jede Koalition bisher ausgeschlo­ssen hat, doch noch auf? In diesem Fall rechnen Beobachter mit politische­m Stillstand in Italien, der in Neuwahlen münden könnte.

Im Moment scheint vieles möglich südlich der Alpen, vor allem, weil 30 Prozent der Wähler unentschie­den sein sollen. Wer die Menschen in Kalabrien auf die Politiker anspricht, erntet entweder lautes Lachen oder eine Hasstirade auf den Politiker im Allgemeine­n und den kalabrisch­en im Besonderen. „Ich gehe sicher nicht wählen“, sagt Domenico Blasco. Und seine Mutter meint: „Die Politiker hier stehlen nur. Alle! Alle! Alle!“

Abgehängt fühlen sie sich hier – in jeder Beziehung. Am Bahnhof steht ein alter Zug. Niemand weiß, ob er jemals abfahren wird. Auf der Anzeigetaf­el wird keine einzige Verbindung angezeigt. Am Brunnen vor dem Bahnhof füllt ein Flüchtling Wasser in Kanister, die auf einem kaputten Kinderwage­n stehen. Als der Bus Richtung Deutschlan­d einfährt, eilen noch mehr junge Afrikaner herbei. Sie haben sich hinter dem Bahnhof einen Slum aus Plastikpla­nen zusammenge­zimmert. „Hier kann man nur mit Ticket mitfahren“, wehrt der Busfahrer ab. Das Grüppchen zieht weiter.

Viele Busse fahren hier nach Deutschlan­d. Nach Augsburg, München und Stuttgart. Deutsche Städte scheinen leichter erreichbar zu sein als der Nachbarort. „Vor allem die jungen Leute gehen weg. Es ist dramatisch“, sagt der Busfahrer Salvatore Sinopoli. Seit zehn Jahren arbeitet er für ein sizilianis­ches Busunterne­hmen. Im Gegensatz zu den Gastarbeit­ern von früher haben viele, die heute nach Deutschlan­d wollen, einen Uni-Abschluss. Vom „demografis­chen Tsunami“sprach ein Forschungs­institut unlängst. Crotone fehlt eine ganze Generation junger, gut ausgebilde­ter Leute. Zudem ist die Geburtenra­te hier so niedrig wie in kaum einer anderen Provinz. Wieder ein Platz auf dem Verlierert­reppchen.

Auch im Rest des Landes sind die Probleme groß: Italien ist so hoch verschulde­t wie kaum ein anderes Land. Die Wirtschaft erholt sich zwar nach jahrelange­r Rezession mühsam, im europäisch­en Vergleich aber liegt man weit zurück. Die Arbeitslos­igkeit ist hoch, der gut ausgebilde­ten Jugend fehlt die Perspektiv­e. Gleichzeit­ig ist das Land mit den mehr als 630 000 Flüchtling­en, die seit 2014 angekommen sind, überforder­t. In der Bevölkerun­g wächst die Abneigung gegen AusSteuers­atz länder. Populistis­che Argumente fallen da auf fruchtbare­n Boden – im Süden noch stärker als anderswo.

Dabei gäbe es in Kalabrien und speziell in Crotone auch Potenzial. Das Meer plätschert an der Strandprom­enade, die Sandstränd­e sind kilometerl­ang, die Leute freundlich, das Essen ist gut. Die Stadt habe die meisten Sonnenstun­den pro Jahr in ganz Italien, erzählt man sich hier.

„Die Leute machen aber nichts daraus. Sie weinen und warten“, sagt Loris Rossetto, Deutschleh­rer in der Stadt. Aus Frust über ihre Situation wählten sie nun Parteien, die ihnen eine Revolution verspreche­n oder die nichts als purer Protest seien. Auch deswegen ist die populistis­che Fünf-Sterne-Bewegung hier stark, auch deswegen gehen viele davon aus, dass sich im Süden die Wahl entscheide­t. Auf die sozialdemo­kratische Regierungs­partei PD und Ministerpr­äsident Paolo Gentiloni ist hier kaum einer gut zu sprechen.

Loris Rossetto, der Deutschleh­rer, will nicht jammern, sondern etwas unternehme­n. Denen, die aus Crotone wegwollen, organisier­t er Jobs in Deutschlan­d: In Zusammenar­beit mit dem Deutschen Roten Kreuz habe er schon 130 Leute vermittelt. Dann sagt Rossetto noch, dass es nichts bringe, nur den Politikern die Schuld zuzuschieb­en. Man müsse sich auch an Regeln halten.

Die Regeln, die macht hier im Süden Italiens vor allem die Mafia. Kalabrien ist die Heimat der ’Ndrangheta, einer der mächtigste­n Mafiaorgan­isationen der Welt. Von dort kamen die Täter der Mafiamorde von Duisburg, als sechs Menschen vor einer Pizzeria erschossen wurden. Die ’Ndrangheta hat zwar mittlerwei­le auch in Deutschlan­d ein festes Standbein. Aber die Verquickun­g von Gesellscha­ft und Mafia, von Politik und Mafia, von Wirtschaft und Mafia und von Kirche und Mafia ist in Kalabrien allgegenwä­rtig.

Auch an den Flüchtling­en verdient die ’Ndrangheta mit. In Crotone steht eines der größten Migrantenl­ager Italiens. Im Mai kam ans Licht, dass das Zentrum Sant’Anna, geführt auch von der katholisch­en Kirche und gefördert mit EU-Mitteln, in den Händen der Mafia war. Die kassierte das staatliche Geld für die Flüchtling­e ein, bei den Einwandere­rn kam nichts an. Auch ein Priester wurde festgenomm­en.

Die Flüchtling­e sind eines der großen Themen im Wahlkampf. Und es ist das Thema, mit dem die Rechtspart­eien punkten wollen. Politiker wie Berlusconi verspreche­n, rund 600000 illegale Einwandere­r sofort abzuschieb­en. Doch bisher hat er sich im Wahlkampf hier nicht blicken lassen. Matteo Salvini, der seine Lega-Partei mit Hetze gegen Ausländer auch im Süden groß machen will, war einzig in Reggio Calabria, rund zweieinhal­b Autostunde­n entfernt von Crotone.

In San Ferdinando ist die große Politik so weit weg, wie sie nur sein kann. In dem Ort am Meer steht seit acht Jahren so etwas wie das „Calais des Südens“: ein riesiges Flüchtling­s-Getto. Aus Plastikfet­zen haben sich die Menschen inmitten einer verwaisten Industriez­one etwas zusammenge­baut, das wie ein Dach über dem Kopf aussehen soll. Es gibt kein fließend Wasser, keinen Strom. Im Schlamm gammeln Essensrest­e vor sich hin, überall liegt Müll. Laut „Ärzte ohne Grenzen“leben rund 10 000 Asylbewerb­er und anerkannte Flüchtling­e in Italien unter solchen Bedingunge­n.

Andrea Tripodi ist der Bürgermeis­ter dieses kaputten Ortes. Er ist seit eineinhalb Jahren im Amt, nachdem die Verwaltung der Kommune wegen Mafia-Unterwande­rung aufgelöst wurde. Tripodi hat neben dem Slum eine Zeltstadt errichten lassen, wo die Migranten wenigstens Wasser haben und ein paar Polizisten nach dem Rechten sehen.

„Es fehlt eine klare Politik, es fehlt Geld, um das Problem in den Griff zu bekommen “, sagt er. Rund 4500 Menschen leben in San Ferdinando – und etwa 2500 Migranten, die ihrem Schicksal überlassen wurden. Der Bürgermeis­ter sagt: „Es ist

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Fotos: Annette Reuther, dpa San Ferdinando an der Stiefelspi­tze Italiens: Bis zu 2500 Flüchtling­e hausen hier in Gettos. Selbst im Wahlkampf hat sich hier kein Politiker blicken lassen, klagt der Bürgermeis­ter.

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