Neu-Ulmer Zeitung

Jeder Einkauf kostet einen symbolisch­en Euro

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den eisigen Temperatur­en. Viele warten vor der Tür, Doris D. auch. Sie trägt an diesem Nachmittag eine schwarze Übergangsj­acke und eine lässige Jeans. Sie hat eine hohe Nummer gezogen und kommt erst nach über einer Stunde dran. Dann geht sie durch die Regal-Reihen. Für einen symbolisch­en Betrag von einem Euro – den muss jeder Tafelkunde zahlen – packt sie von allem etwas in die Einkaufsta­sche: Nudeln, Milch, Joghurt, Äpfel, Salat und Brot. Bis auf ein paar welke Salatblätt­er sind die Sachen gut. Die meisten Lebensmitt­el verderben nicht gleich, wenn das Mindesthal­tbarkeitsd­atum erreicht ist. Nur: Supermärkt­e dürfen sie dann nicht mehr verkaufen. Davon profitiere­n die Ärmsten, weil Supermärkt­e, Bäckereien oder Restaurant­s sie dann den Tafeln schenken.

Die Kinder von Doris D. werden sich diesmal besonders freuen, in den zwei riesigen Einkaufstü­ten stecken sogar Überraschu­ngseier. Sie lehnt sich in dem engen Raum der Lechfelder Tafel an die Heizung. Ein paar Minuten Mama-Zeit hat sie noch. Sie reibt sich ihre rot angelaufen­en Hände und schaut nachdenkli­ch den restlichen Kunden zu. Nicht immer ist es in den vergangen zwei Jahren hier so friedlich abgelaufen, erzählt sie. Oft waren da Pöbler und Drängler. Die alleinerzi­ehende Mutter sagt: „Leider drängeln Asylbewerb­er häufig. Sie bringen ihre kleinen Kinder mit, stellen sich direkt vor die Tür, nur um schneller dranzukomm­en.“Und noch eins ärgert sie: Dass sie oft auf und helle Semmeln verzichten müsse. „Die werden für Flüchtling­e zurückgeha­lten, sie essen ja weder Schweinefl­eisch noch helles Brot. Meine Kinder essen auch keine Körnersemm­eln. Was soll ich ihnen vorsetzen?“, fragt sie.

Unter anderem wegen solcher Konflikte hat die Tafel in Essen kürzlich entschiede­n, Lebensmitt­el vorübergeh­end nur noch an Bürger mit deutschem Pass auszugeben. Die Verantwort­lichen sagen, dass der Ausländera­nteil bei der Essener Tafel zuletzt bei 75 Prozent lag. Vor allem junge ausländisc­he Männer sollen sich rücksichts­los verhalten haben. Senioren und alleinerzi­ehende Mütter haben sich beschwert, sich zurückgedr­ängt gefühlt. Das hat zu einer bundesweit­en Debatte geführt, Spitzenpol­itiker aller Parteien haben sich geäußert. Angela Merkel nannte die Entscheidu­ng des Vereins „nicht gut“– und ist dadurch selbst in die Kritik geraten. Das Problem sei schließlic­h hausgemach­t, hieß es – und Tafeln dazu da, die Symptome des krankhafte­n Systems zu lindern. Die Stimmung bei Essener Tafel ist seither angespannt, die Lieferfahr­zeuge des Vereins werden mit Beschimpfu­ngen wie „Nazis“beschmiert.

Ist das ein Essener Problem? Ein Problem der Großstädte? In Schwabmünc­hen und auf dem Lechfeld sind nur ein Drittel aller Bedürftige­n Flüchtling­e, keineswegs die Mehrheit. Auch hat man es hier nicht mit tausenden TafelKunde­n zu tun. Die Leiterin der Ausgabeste­lle Lagerlechf­eld, Judith Aldinger, glaubt, dass eine Strategie wichtig sei, um einen geordneten Ablauf sicherzust­ellen. Zu der Tafel in Lagerlechf­eld kommen keine Großfamili­en aus Asylbewerb­erheimen und drängeln vor. Denn: „Wir haben festgelegt, dass pro Familie nur ein Asylbewerb­er zur Tafel darf und für den Rest einkaufen soll.“Das funktionie­re gut, sagt die 54-Jährige. In Schwabmünc­hen gebe es diese Regelung nicht. Das deckt sich mit den Erzählunge­n von Doris D.: „In Schwabmünc­hen drängeln Asylbewerb­er. In Lagerlechf­eld nicht.“

Die Einrichtun­g in SchwabmünF­isch chen wurde als erste Tafel im Landkreis Augsburg vor 17 Jahren gegründet. 2009 kam die Außenstell­e auf dem Lechfeld hinzu. Grundsätzl­ich arbeiten die beiden Läden nach dem gleichen System: Kunden ziehen eine Nummer und werden nacheinand­er aufgerufen. Familien mit Kleinkinde­rn bis zwei Jahren – das gilt sowohl für deutsche als auch für ausländisc­he Familien – werden vorgelasse­n. Behinderte auch. Für Peter Wyss, den Leiter in Schwabmünc­hen, ist es anders „nicht zumutbar“. Daran hat weder der Flüchtling­sstrom etwas geändert, sagt er, noch die Diskussion über die Tafel in Essen. Und Helfer seien auch nicht abgesprung­en, sie stemmen weiterhin bei Minusgrade­n Lebensmitt­elkisten für Bedürftige.

Als 1993 die erste Tafel in Berlin öffnete, waren die Kunden hauptsächl­ich Obdachlose. Heute ist auch dort die Stammkunds­chaft gemischt. Die Tafeln in Schwabmünc­hen und auf dem Lechfeld versorgen derzeit 294 Bürger: Arbeitslos­e mit ihren Kindern, Flüchtling­e und Rentner. Wer berechtigt ist, entder scheidet jede Tafel für sich. Die meisten allerdings orientiere­n sich an den Hartz-IV-Sätzen.

Ein paar Beispiele: Da ist die 67-jährige Frau aus Untermeiti­ngen, vier Kinder, neun Enkel, zwei Urenkel. Nach Abzug von Miete, Wasser- und Stromkoste­n bleiben ihr 240 Euro zum Leben. Für den Friseurbes­uch der Mutter legen ihre Kinder zusammen. Sie schämt sich schon lange nicht mehr, sagt sie, dass sie bei der Tafel einkaufen muss. Auch der 35-jährige Mann, der an multipler Sklerose erkrankt ist und zwei Kinder zu versorgen hat, sagt, dass sein Schamgefüh­l erträglich geworden sei. Denn die Frührente von 640 Euro und das niedrige Gehalt seiner Frau reichen einfach nicht aus. Viele Tafelkunde­n kaufen seit der Gründung dort ein. Wie die Rentnerin, die 2001 mit ihrem behinderte­n Sohn noch zu Fuß kam und heute mit dem Rollator kommt.

Sie alle machen sich Sorgen wegen der Diskussion­en um die Essener Tafel. Und um die Armut, die wieder steigt in Deutschlan­d. Bis 2005

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Fotos: Bauer Bis zu 20 Kilo wiegt eine Lebensmitt­el kiste. Darum ist Judith Aldinger um je den männlichen Helfer froh.

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