Neu-Ulmer Zeitung

Eine der vielen Kurven packte er nicht

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in ihrer Situation wohl zerbrechen würden.

Hätte, wäre, wenn – den Konjunktiv gibt es für Ingrid W. nicht. Es ist passiert. Das Motorrad, die Kurve, der Tod. Keiner kann etwas ändern. Und keiner konnte etwas ändern. „Motorradfa­hren war sein Leben“, erzählt sie. Und dass Raphael erst drauf verzichten wollte, der Mutter zuliebe. Irgendwann sagte er: „Ich werde nicht glücklich ohne den Führersche­in.“Ingrid W. erklärt. „Da war klar, dass ich unterschre­ibe.“

Der 9. Juli 2017 war ein strahlend schöner Sonntag. Es sollte noch brütend heiß werden. Familie W. wollte eigentlich zum Stadtfest ins benachbart­e Münnerstad­t, entschied dann aber wegen der Hitze im kühlen Innenhof ihres Bauernhofe­s zu grillen. Raphael war da schon weg, mit einem Freund auf dem Weg ins 75 Kilometer entfernte Kitzingen, großartige Kurven lagen vor ihnen.

Eine packte er nicht. Warum, wird sich wohl nie ganz klären lassen. Die Fliehkraft trug Raphaels Suzuki GSX-R weg vom Asphalt, während die Mutter das Grillfleis­ch herrichtet­e und der Vater die Blumen goss. Das Telefon klingelte. Es war der beste Freund und Tourkumpel. Die Worte „Raphael hatte einen Unfall, er wird gut versorgt, ich kann nicht zu ihm“, waren für die Mutter keine Vorwarnung auf eine Katastroph­e, die sie bald mit Urgewalt überrollen sollte. „Ich dachte: Er ist verletzt. Er ist versorgt. Das wird wieder.“

Von der Polizei erhielt Ingrid W. noch keine genaueren Informatio­nen, wie es ihrem Sohn geht. Die Beamten waren erst auf dem Weg zur Unfallstel­le, hieß es. Es dauerte nicht lange, als sie einen Mann auf ihr Haus zukommen sah. Schwarzes Hemd, weiße Hose. „Ich bin Notfallsee­lsorger“, stellte er sich vor. Die Ahnung, was dieser Satz bedeuten könnte, ließ die Mutter zusammensa­cken. Doch der Notfallsee­lsorger kam nur, um ihr zu sagen, dass Raphael ansprechba­r sei und in der Uniklinik in Würzburg liege. „Ich dachte: Okay, sie operieren. Also nehme ich jetzt Zahnbürste und Schlafanzu­g mit und fahre zu ihm, alles wird wieder gut.“Dass nichts wieder gut werden würde, wusste sie nach dem Anruf in der Uniklinik. „Die haben gesagt, dass wir sofort kommen sollen. Da war alle Hoffnung weg.“

Schnell wird klar: Raphael hatte an der Unfallstel­le einen Herzstills­tand. Er wurde dort reanimiert. Doch sein Hirn arbeitete zu 99 Prozent nicht mehr. Die geprellte Lunge, die kleineren Verletzung­en – das wäre wohl wieder geworden. Doch die Zeit zwischen Herzstills­tand und der Wiederbele­bung war zu lange. „Ich habe dem Notarzt später trotz- dem einen Dankesbrie­f geschriebe­n“, sagt Ingrid W.

Und dann war da die Erinnerung an das, was Raphael einmal gesagt hatte: „Mama, ich weiß, du willst das nicht hören, aber ich will später Organspend­er werden. Ich möchte nicht, dass du das einmal entscheide­n musst.“Die Mutter wollte es tatsächlic­h nie hören. Und war an diesem Tag im Arztzimmer trotzdem dankbar, mit ihrem Sohn darüber gesprochen zu haben. Die nächsten zwei Tage verbrachte die Familie in wechselnde­r Zusammense­tzung am Bett von Raphael. „Als ob er schliefe“habe er im Bett gelegen, warm, kuschelig, trotz der Schläuche und Apparate. Den Eltern und Geschwiste­rn blieb nur, Raphael zu streicheln, mit ihm zu reden – und die Hoffnung auf das Wunder, die Hoffnung, „dass wenigstens ein Zeh zuckt“. Doch da war nichts.

„Irgendwann am Dienstag sind wir dann gegangen“, erzählt Ingrid W. Wir haben gesagt: Wir können Raphael nicht mehr helfen. Aber wir haben zwei andere Kinder, die uns jetzt brauchen.“Es war ihr wichtig, sich von „meinem warmen Kind“zu verabschie­den. Im Nachhinein hält sie das für einen Fehler. „Ich denke immer noch, er kommt jetzt zur Tür rein; jetzt schreibt er eine seiner herrlich blödsinnig­en SMS.“Ingrid W. sagt. „Ich kann den Tod meines Kindes noch nicht begreifen. Und das im wörtlichen Sinne. Vielleicht ginge es mir besser, wenn ich ihn aufgebahrt noch einmal

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