Die große Unübersichtlichkeit
Die Welt multipolar, das Internet uferlos, die Parteienlandschaft zersplitternd, die Familien Flickenteppiche, die Geschlechter vielfältig, die Nachrichten widersprüchlich… – woher soll da noch Orientierung herkommen?
Zwei Szenen aus den vergangenen beiden Jahren, die im Kleinen große Tendenzen verdeutlichen.
Im US-Wahlkampf zeigte eine russische Propaganda-Agentur, mit wie geringem Aufwand Menschen am anderen Ende der Welt ganz unmittelbar aufeinandergehetzt werden können. Mitarbeiter der „Internet Research Agency“gründeten zwei Facebook-Gruppen. Die eine gab unter dem Namen „Heart of Texas“vor, gegen die Islamisierung des Bundesstaats zu kämpfen; die andere gab unter dem Namen „United Muslims of America“vor, sich für die Bewahrung islamischen Kulturguts einzusetzen. Dann setzten beide eine Demonstration an, in Houston, zur gleichen Zeit am gleichen Ort, beworben mit einem Minimalaufwand von gerade mal 200 Dollar. Und so trafen in der Hauptstadt von Texas tatsächlich wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl zwei Gruppen aufeinander, wütend, aufgehetzt von weit entfernten Hackern, mühsam in Zaum gehalten von örtlichen Sicherheitskräften.
Und ebenfalls aus den USA, aus New York, stammt die Entscheidung eines Stadtrats. Der war konfrontiert mit der Beschwerde, dass Trans-, Inter- und Bisexuelle sich unter Druck gesetzt gefühlt hatten durch die notwendige Wahl zwischen Männer- und Frauenklo im öffentlichen Raum. Der Beschluss fiel mit 47 zu zwei Stimmen. Tausende Gastronomien wurden ver- pflichtet, auf Unisex-Toiletten umzurüsten, öffentliche Örtchen dürfen nicht mehr nach Geschlecht getrennt werden.
Die eine Szene steht für die unüberschaubare Manipulations- und Eskalationsmöglichkeiten in einer voll vernetzten und in mehreren Machtpolen gegeneinander gerichteten Welt. Technologie und Macht – daran lassen sich unzählige Fragen anschließen. Nur mal zum Beispiel: Wer kann für Wehrhaftigkeit gegen Terror durch Hacker sorgen? Wie sollten die Probleme der Welt bei so vielen Machtblöcken nicht noch komplizierter zu lösen sein? Wer könnte die verdeckten Einflussachsen aufdecken? Wer die illegalen Finanzströme freilegen, die auch für eine immer größere Ballung des Reichtums sorgen? Wer den Tendenzen der Automatisierung sozial verträgliche Grenzen setzen? Wer der synthetischen Biologie humane? Wer weiß, was mit unseren Daten im Netz passiert? Welchen Kanälen, welchen Fakten ist noch zu trauen?
Die andere Szene steht für das Problem, in immer weiter in Interessensgruppen zerfallenden Gesellschaften noch Freiheit und Gleichheit zu organisieren. Individualisierung, Heterogenität und Politik also – da schließen sich längst unzählige Debatten an. Zum Beispiel darüber: Wie man das Verhältnis zwischen Minderheiten und Mehrheit regeln soll, wenn die Minderheiten in Summe bald die Mehrheit sind; was noch für sozialen Zusammenhalt sorgt; ob Länder eine Leitkultur brauchen, so etwas wie Normalität und Identität definiert; ob Länder sich gegen alle internationaler Vernetzung und Verantwortung nicht besser abschotten sollen, um den inneren Zusammenhalt zu fördern. Aber genauso auch: ob Länder sich gegen internationale Vernetzung und Verantwortung abschotten dürfen, wo die großen Probleme der Welt doch nur noch gemeinsam lösbar erscheinen. Und: wie der freie Konsument zugleich verantwortungsvoller Bürger werden soll, vernünftig und doch nicht bevormundet …
Es ist die gleiche Erscheinung in allen Facetten: In der Gegenwart bereits zeichnet sich die wesentliche Herausforderung für die Zukunft ab – die große Unübersichtlichkeit vom gewissensbelastenden Einkauf bis zum drohenden Atomkrieg. Kein Wunder jedenfalls, dass die, die klare Ordnung versprechen, in solchen zudem ja krisenhaften Zeiten wieder Konjunktur haben. Und meistens passend dazu, aber auch zum Superhelden-Trend in den Kinos: singuläre Führungsgestalten, die mit Anspruch punkten, gut und böse mit klarer Hand scheiden. Kein Wunder auch, dass die gesellschaftlichen Zersplitterung gerade die sogenannten Volksparteien in Nöte bringt – weil sie für ein Wertefundament sorgen sollen, das zugleich Profil zeigt und breit wirkt, weil sie zugleich offen sein und geschlossen auftreten sollen, mit Markenkern und zugleich breitem Identifikationsangebot. Da werden dann auch große Koalitionen immer kleine… Sich auf das Wesentliche besinnen – das ist der Slogan der Stunde inmitten der großen Unübersichtlichkeit. Aber was heißt das?
Bereits über 30 Jahre alt ist der Befund, getroffen vom deutschen Philosophen Jürgen Habermas in seiner Schrift „Die neue Unübersichtlichkeit“(für die er dann auch den den Geschwister-Scholl-Preis erhielt). Nun mag man sagen, dass damals (ohne Smartphones, mit einer in zwei Machtblöcke geteilten Welt, intakten Volksparteien und weitestgehend klassischen Familienmodellen) vergleichsweise ja noch alles in Ordnung schien – aber spricht das gegen die Prinzipien?
Habermas’ Idee von einer „deliberativen Demokratie“jedenfalls hat sich seitdem in vielen Ansätzen erneuert und ist doch im Kern geblieben: Notwendig sei eine Neuordnung vor allem der Kommunikation. Die möglichst breit beteiligte Öffentlichkeit soll demnach entscheiden, worüber die von ihnen gewählten Regierenden entscheiden. Damit soll für breiteren Diskurs, breiteres Engagement, breitere Einbindungschancen für die Bürger und breiteren Anbindungdruck auf die Politik gesorgt werden – also für mehr Legitidie mation. Klingt plausibel. Weil es die herrschende Regel außer Kraft setzt, dass der die wahre Macht hat, der bestimmt, worüber eigentlich entschieden wird. Die neuen Technologien könnten dabei sogar helfen. Im Inneren würde die Unübersichtlichkeit also von unten gelöst.
Im Äußeren aber ist eine solche „Deliberation“gar nicht möglich, weil es auch in Europa nicht, aber vor allem nicht in einer Welt der Vetomächte, die Strukturen gibt, die konkurrierenden Parteien an eine gemeinsame Verantwortung zu binden. Der Druck dazu müsste schon von oben, also von etwas noch Größerem kommen. Und da gibt es nur zweierlei. Das eine, altmodisch, ideell und historisch begründet zigfach anzweifelbar: eine Entwicklung zur Vernunft. Das andere, ziemlich aktuell, ganz real und dann über alle Geschichte erhaben: so umfassende, existenzielle Krisen, dass nur noch das Zusammenstehen helfen könnte.
So unübersichtlich wie heute war die Welt zuletzt vor den beiden Weltkriegen. Das legt nahe, was es heißt, sich auf das Wesentliche zu besinnen: Wege finden, die Unordnung miteinander auszuhalten. Gleich in aller Verschiedenheit. Vereint gegen die, die sie sich zerstörerisch zunutze machen wollen. Denn es herrscht kein Krieg der Kulturen, sondern bloß einer der Macht: Wer kann sich die Unbilden der Welt am erfolgreichsten vom Hals halten? Und treffen sich da nicht die Tendenzen oben zusehends mit dem Druck von unten? Wenn das Leben, wenn die Literatur unseren Vorstellungen zuwiderläuft, greifen wir gern zu dem Verwunderungsund Empörungssatz „Das kann doch nicht (wahr) sein!“Margriet de Moor legt uns in ihrem Roman „Von Vögeln und Menschen“ebendiesen Satz auf die Lippen. Eine Frau tötet einen alten Mann. Eine zweite Frau gesteht die Tat, ohne sie begangen zu haben. Eine dritte Frau, die Tochter der zweiten, stürzt die wahre Täterin in den Tod… Klingt verzwickt, ist es auch. Denn die niederländische Autorin springt zeitlich vor und zurück, wechselt die Erzählperspektiven, legt ihre (etwas ausfransende) Geschichte wie ein Puzzle an, führt aber die scheinbar losen Fäden psychologisch geschickt zusammen.
Den Familiengeschichten mit ihren Glücksmomenten und Versteinerungen, der bewegenden Freundlichkeit und unheilvollen Wut, spürt man als Leser gerne nach. Margriet de Moor klärt vieles auf und lässt zugleich Entscheidendes offen. So wahrt das immer wieder aus der Balance kippende Leben seine Geheimnisse – und seine Eigenmächtigkeit: „Die Dinge treffen ihre Entscheidung, bevor man es selbst tun kann.“Apropos Vögel: Sie sind wie ein Muster in den Roman gewirkt. Gerade wenn man Möwen, Reiher, Gänse und Knäkenten liebt, muss man ihnen nachstellen und sie aufschrecken: Das erzählt die schöne Binnengeschichte vom Vogelvertreiber am Amsterdamer Flughafen Schiphol. (go)
Hanser, 268 S., 23 ¤
Womöglich wird es dieses Jahr bei uns kein besseres Buch zu lesen geben als dieses: temporeich und gnadenlos, witzig und abgründig, wahrhaftig und absurd zugleich. Und dabei ist es doch eigentlich nur der mittlere Teil einer ganzen RomanTrilogie über den Absturz eines Schallplattenverkäufers in Paris.
„Das Leben des Vernon Subutex“, so heißt die Serie bei uns. In Frankreich hat sie die Autorin Virginie Despentes (bis dahin als ExProstituierte trotz Bucherfolgen wie dem fürs Kino verfilmten „Baisemoi“und „Apokalypse Baby“noch etwas zu skandalumwittert) endgültig zu einer der bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart gemacht. Warum, das wurde bereits im ersten Teil erahnbar. Denn der Sturz ihres Vernon durch die sozialen Netze ist für Despentes Anlass zu einem Schnitt durch eine von Individualismus und Kapitalismus entseelte Gesellschaft.
Nun, in Teil zwei, bleibt auch das zum Auftakt mit viel Koks und ordentlich Exzess etwas zu schrill Inszenierte draußen. Subutex lebt auf der Straße, ein seltsamer Kreis ehemaliger Bekannter findet durch die Suche nach ihm zusammen: Politischer Rechtsausleger trifft auf ExPorno-Queen, trifft auf lesbische Muslima, trifft auf Lottogewinner im Gewand eines heruntergekommenen Säufers … Großartige Lebensstudien. Wer Michel Houellebecq oder Sibylle Berg mag, wird das hier lieben. (ws)
Übs. Claudia Steinitz, Kiepenheuer & Witsch, 400 S., 22 ¤