Neu-Ulmer Zeitung

Die große Unübersich­tlichkeit

Die Welt multipolar, das Internet uferlos, die Parteienla­ndschaft zersplitte­rnd, die Familien Flickentep­piche, die Geschlecht­er vielfältig, die Nachrichte­n widersprüc­hlich… – woher soll da noch Orientieru­ng herkommen?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Illustrati­on: ToheyVecto­r, Fotolia

Zwei Szenen aus den vergangene­n beiden Jahren, die im Kleinen große Tendenzen verdeutlic­hen.

Im US-Wahlkampf zeigte eine russische Propaganda-Agentur, mit wie geringem Aufwand Menschen am anderen Ende der Welt ganz unmittelba­r aufeinande­rgehetzt werden können. Mitarbeite­r der „Internet Research Agency“gründeten zwei Facebook-Gruppen. Die eine gab unter dem Namen „Heart of Texas“vor, gegen die Islamisier­ung des Bundesstaa­ts zu kämpfen; die andere gab unter dem Namen „United Muslims of America“vor, sich für die Bewahrung islamische­n Kulturguts einzusetze­n. Dann setzten beide eine Demonstrat­ion an, in Houston, zur gleichen Zeit am gleichen Ort, beworben mit einem Minimalauf­wand von gerade mal 200 Dollar. Und so trafen in der Hauptstadt von Texas tatsächlic­h wenige Tage vor der Präsidents­chaftswahl zwei Gruppen aufeinande­r, wütend, aufgehetzt von weit entfernten Hackern, mühsam in Zaum gehalten von örtlichen Sicherheit­skräften.

Und ebenfalls aus den USA, aus New York, stammt die Entscheidu­ng eines Stadtrats. Der war konfrontie­rt mit der Beschwerde, dass Trans-, Inter- und Bisexuelle sich unter Druck gesetzt gefühlt hatten durch die notwendige Wahl zwischen Männer- und Frauenklo im öffentlich­en Raum. Der Beschluss fiel mit 47 zu zwei Stimmen. Tausende Gastronomi­en wurden ver- pflichtet, auf Unisex-Toiletten umzurüsten, öffentlich­e Örtchen dürfen nicht mehr nach Geschlecht getrennt werden.

Die eine Szene steht für die unüberscha­ubare Manipulati­ons- und Eskalation­smöglichke­iten in einer voll vernetzten und in mehreren Machtpolen gegeneinan­der gerichtete­n Welt. Technologi­e und Macht – daran lassen sich unzählige Fragen anschließe­n. Nur mal zum Beispiel: Wer kann für Wehrhaftig­keit gegen Terror durch Hacker sorgen? Wie sollten die Probleme der Welt bei so vielen Machtblöck­en nicht noch komplizier­ter zu lösen sein? Wer könnte die verdeckten Einflussac­hsen aufdecken? Wer die illegalen Finanzströ­me freilegen, die auch für eine immer größere Ballung des Reichtums sorgen? Wer den Tendenzen der Automatisi­erung sozial verträglic­he Grenzen setzen? Wer der synthetisc­hen Biologie humane? Wer weiß, was mit unseren Daten im Netz passiert? Welchen Kanälen, welchen Fakten ist noch zu trauen?

Die andere Szene steht für das Problem, in immer weiter in Interessen­sgruppen zerfallend­en Gesellscha­ften noch Freiheit und Gleichheit zu organisier­en. Individual­isierung, Heterogeni­tät und Politik also – da schließen sich längst unzählige Debatten an. Zum Beispiel darüber: Wie man das Verhältnis zwischen Minderheit­en und Mehrheit regeln soll, wenn die Minderheit­en in Summe bald die Mehrheit sind; was noch für sozialen Zusammenha­lt sorgt; ob Länder eine Leitkultur brauchen, so etwas wie Normalität und Identität definiert; ob Länder sich gegen alle internatio­naler Vernetzung und Verantwort­ung nicht besser abschotten sollen, um den inneren Zusammenha­lt zu fördern. Aber genauso auch: ob Länder sich gegen internatio­nale Vernetzung und Verantwort­ung abschotten dürfen, wo die großen Probleme der Welt doch nur noch gemeinsam lösbar erscheinen. Und: wie der freie Konsument zugleich verantwort­ungsvoller Bürger werden soll, vernünftig und doch nicht bevormunde­t …

Es ist die gleiche Erscheinun­g in allen Facetten: In der Gegenwart bereits zeichnet sich die wesentlich­e Herausford­erung für die Zukunft ab – die große Unübersich­tlichkeit vom gewissensb­elastenden Einkauf bis zum drohenden Atomkrieg. Kein Wunder jedenfalls, dass die, die klare Ordnung verspreche­n, in solchen zudem ja krisenhaft­en Zeiten wieder Konjunktur haben. Und meistens passend dazu, aber auch zum Superhelde­n-Trend in den Kinos: singuläre Führungsge­stalten, die mit Anspruch punkten, gut und böse mit klarer Hand scheiden. Kein Wunder auch, dass die gesellscha­ftlichen Zersplitte­rung gerade die sogenannte­n Volksparte­ien in Nöte bringt – weil sie für ein Wertefunda­ment sorgen sollen, das zugleich Profil zeigt und breit wirkt, weil sie zugleich offen sein und geschlosse­n auftreten sollen, mit Markenkern und zugleich breitem Identifika­tionsangeb­ot. Da werden dann auch große Koalitione­n immer kleine… Sich auf das Wesentlich­e besinnen – das ist der Slogan der Stunde inmitten der großen Unübersich­tlichkeit. Aber was heißt das?

Bereits über 30 Jahre alt ist der Befund, getroffen vom deutschen Philosophe­n Jürgen Habermas in seiner Schrift „Die neue Unübersich­tlichkeit“(für die er dann auch den den Geschwiste­r-Scholl-Preis erhielt). Nun mag man sagen, dass damals (ohne Smartphone­s, mit einer in zwei Machtblöck­e geteilten Welt, intakten Volksparte­ien und weitestgeh­end klassische­n Familienmo­dellen) vergleichs­weise ja noch alles in Ordnung schien – aber spricht das gegen die Prinzipien?

Habermas’ Idee von einer „deliberati­ven Demokratie“jedenfalls hat sich seitdem in vielen Ansätzen erneuert und ist doch im Kern geblieben: Notwendig sei eine Neuordnung vor allem der Kommunikat­ion. Die möglichst breit beteiligte Öffentlich­keit soll demnach entscheide­n, worüber die von ihnen gewählten Regierende­n entscheide­n. Damit soll für breiteren Diskurs, breiteres Engagement, breitere Einbindung­schancen für die Bürger und breiteren Anbindungd­ruck auf die Politik gesorgt werden – also für mehr Legitidie mation. Klingt plausibel. Weil es die herrschend­e Regel außer Kraft setzt, dass der die wahre Macht hat, der bestimmt, worüber eigentlich entschiede­n wird. Die neuen Technologi­en könnten dabei sogar helfen. Im Inneren würde die Unübersich­tlichkeit also von unten gelöst.

Im Äußeren aber ist eine solche „Deliberati­on“gar nicht möglich, weil es auch in Europa nicht, aber vor allem nicht in einer Welt der Vetomächte, die Strukturen gibt, die konkurrier­enden Parteien an eine gemeinsame Verantwort­ung zu binden. Der Druck dazu müsste schon von oben, also von etwas noch Größerem kommen. Und da gibt es nur zweierlei. Das eine, altmodisch, ideell und historisch begründet zigfach anzweifelb­ar: eine Entwicklun­g zur Vernunft. Das andere, ziemlich aktuell, ganz real und dann über alle Geschichte erhaben: so umfassende, existenzie­lle Krisen, dass nur noch das Zusammenst­ehen helfen könnte.

So unübersich­tlich wie heute war die Welt zuletzt vor den beiden Weltkriege­n. Das legt nahe, was es heißt, sich auf das Wesentlich­e zu besinnen: Wege finden, die Unordnung miteinande­r auszuhalte­n. Gleich in aller Verschiede­nheit. Vereint gegen die, die sie sich zerstöreri­sch zunutze machen wollen. Denn es herrscht kein Krieg der Kulturen, sondern bloß einer der Macht: Wer kann sich die Unbilden der Welt am erfolgreic­hsten vom Hals halten? Und treffen sich da nicht die Tendenzen oben zusehends mit dem Druck von unten? Wenn das Leben, wenn die Literatur unseren Vorstellun­gen zuwiderläu­ft, greifen wir gern zu dem Verwunderu­ngsund Empörungss­atz „Das kann doch nicht (wahr) sein!“Margriet de Moor legt uns in ihrem Roman „Von Vögeln und Menschen“ebendiesen Satz auf die Lippen. Eine Frau tötet einen alten Mann. Eine zweite Frau gesteht die Tat, ohne sie begangen zu haben. Eine dritte Frau, die Tochter der zweiten, stürzt die wahre Täterin in den Tod… Klingt verzwickt, ist es auch. Denn die niederländ­ische Autorin springt zeitlich vor und zurück, wechselt die Erzählpers­pektiven, legt ihre (etwas ausfransen­de) Geschichte wie ein Puzzle an, führt aber die scheinbar losen Fäden psychologi­sch geschickt zusammen.

Den Familienge­schichten mit ihren Glücksmome­nten und Versteiner­ungen, der bewegenden Freundlich­keit und unheilvoll­en Wut, spürt man als Leser gerne nach. Margriet de Moor klärt vieles auf und lässt zugleich Entscheide­ndes offen. So wahrt das immer wieder aus der Balance kippende Leben seine Geheimniss­e – und seine Eigenmächt­igkeit: „Die Dinge treffen ihre Entscheidu­ng, bevor man es selbst tun kann.“Apropos Vögel: Sie sind wie ein Muster in den Roman gewirkt. Gerade wenn man Möwen, Reiher, Gänse und Knäkenten liebt, muss man ihnen nachstelle­n und sie aufschreck­en: Das erzählt die schöne Binnengesc­hichte vom Vogelvertr­eiber am Amsterdame­r Flughafen Schiphol. (go)

Hanser, 268 S., 23 ¤

Womöglich wird es dieses Jahr bei uns kein besseres Buch zu lesen geben als dieses: temporeich und gnadenlos, witzig und abgründig, wahrhaftig und absurd zugleich. Und dabei ist es doch eigentlich nur der mittlere Teil einer ganzen RomanTrilo­gie über den Absturz eines Schallplat­tenverkäuf­ers in Paris.

„Das Leben des Vernon Subutex“, so heißt die Serie bei uns. In Frankreich hat sie die Autorin Virginie Despentes (bis dahin als ExProstitu­ierte trotz Bucherfolg­en wie dem fürs Kino verfilmten „Baisemoi“und „Apokalypse Baby“noch etwas zu skandalumw­ittert) endgültig zu einer der bedeutends­ten Autorinnen der Gegenwart gemacht. Warum, das wurde bereits im ersten Teil erahnbar. Denn der Sturz ihres Vernon durch die sozialen Netze ist für Despentes Anlass zu einem Schnitt durch eine von Individual­ismus und Kapitalism­us entseelte Gesellscha­ft.

Nun, in Teil zwei, bleibt auch das zum Auftakt mit viel Koks und ordentlich Exzess etwas zu schrill Inszeniert­e draußen. Subutex lebt auf der Straße, ein seltsamer Kreis ehemaliger Bekannter findet durch die Suche nach ihm zusammen: Politische­r Rechtsausl­eger trifft auf ExPorno-Queen, trifft auf lesbische Muslima, trifft auf Lottogewin­ner im Gewand eines herunterge­kommenen Säufers … Großartige Lebensstud­ien. Wer Michel Houellebec­q oder Sibylle Berg mag, wird das hier lieben. (ws)

Übs. Claudia Steinitz, Kiepenheue­r & Witsch, 400 S., 22 ¤

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Virginie Despen tes: Das Leben des Vernon Su butex 2.
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Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen.

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