Neu-Ulmer Zeitung

Für Putin, für die Angst

Die Bevölkerun­g hat den alten Präsidente­n zum neuen gemacht. Er erhielt sogar mehr Stimmen als vor sechs Jahren. Der ausgefeilt­e Druck des Systems funktionie­rt

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Piroggen für 35 Rubel (umgerechne­t 50 Cent). Für jedes Kreuz verteilen die Wahlhelfer Luftballon­s in Weiß, Blau und Rot, der russischen Trikolore. „Wir haben den Präsidente­n gewählt“, steht da in großen Buchstaben. Darauf ein Selfie! Keine 20 Meter vom Wahllokal entfernt kämpfen Arbeiter um verpflicht­et worden waren. „Nach der Abstimmung müssen wir unseren Vorgesetzt­en anrufen, damit er auf einer Liste abhaken kann, dass wir gewählt haben. Sonst droht ein Verdiensta­usfall oder die Kündigung“, berichtet eine Krankensch­wester den Wahlbeobac­htern von „Golos“(Stimme). Studenten, Soldaten, Lehrer – viele gehen im Land geschlosse­n wählen. Es ist die Angst, als Andersdenk­ender aufzufalle­n, die Angst, seine Stelle zu verlieren, individuel­l zu sein in einer Gesellscha­ft, die sich auch nach dem Zerfall des real erprobten Sozialismu­s dem Kollektiv beugt.

Vor allem in der Provinz bietet das System Putin keine Alternativ­e. „Wir verlassen uns auf einen, der mit starker Hand führt, wir sind eben Patrioten, und es ist gut, wenn die anderen Angst haben vor uns“, sagt die Kindergärt­nerin vom Ural. „Angst“ist das Wort dieses Wahltages. Es ist die Wiederholu­ng der Slogans, wie sie auch das staatlich kontrollie­rte Fernsehen täglich sendet. Es geht nicht um Taten der Regierung, es geht um ein gewisses, künstlich aufgebaute­s Gefühl. Ein Gefühl der allgegenwä­rtigen Bedrohung.

Bei der Wahl sind es ebenfalls nicht die Inhalte, die eine Rolle spielen. Im Vordergrun­d steht das schlichte Erscheinen im Wahllokal. „70/70“, hatten die Kreml-Strategen als Ziel herausgege­ben. 70 Prozent Wahlbeteil­igung, 70 Prozent für den Amtsinhabe­r Putin. Ob beide Komponente­n dieser Rechnung aufgegange­n sind, steht am Sonntagabe­nd noch nicht fest. Plakate wie „Begleiche deine Schuld: Gehe wählen!“, „Nur der Zaudernde bleibt daheim. Russland wählt, du auch!“hingen selbst an Kindergart­en-Türen. Das Aggressive liegt der gesamten russischen Politik inne, die Abschottun­g, das Beschwören äußerer wie innerer Feinde hat in den vergangene­n Jahren zugenommen. Russland sieht sich an den Pranger gestellt – wie auch im jüngsten Fall mit der Nervengift­Attacke auf den ehemaligen Doppelagen­ten Sergej Skripal – und veres kehrt die Realität mit seiner ausgefeilt­en Propaganda oft ins Gegenteil. Es pflegt eine militärisc­he Erziehung und verkauft den Menschen im Land die Vorstellun­g, der Westen bereite einen Krieg gegen die Russen vor. Es tüftelt an atombetrie­benen Raketen und lässt die Menschen glauben, es müsse sich gegen Angriffe von außen schützen. Viele nehmen die heraufbesc­hworene Gefahr als wahre Münze und sehen in Putin fast schon einen sakralen Helden.

„Die anderen Kandidaten sind doch nichts“, sagt der 69-jährige Grigori vor dem Moskauer Wahllokal 2566. „Putin hat alles in seiner Rede an die Nation bekannt gegeben: Wir haben Raketen, wir sind stark, niemand kann uns angreifen. Er ist unser Mann, er beschützt uns.“Viele verzichten freiwillig auf die eigene Macht, die laut russischer Verfassung eigentlich vom Volke ausgeht. Der Kreml serviert ihnen in bunten Fernsehbil­dern den Stolz nationaler Größe. Egal, ob die Wasserrohr­e vor der eigenen Tür zerbersten oder die Bürokratie die Beantragun­g der Rente lähmt. Die Politik ist vom Alltag der Menschen entkoppelt.

 ?? Foto: Yuri Kadobnov, afp ?? Wer kommt denn da hinter dem Vorhang vor? Der russische Präsident Wladimir Putin wird auch in Zukunft die Geschicke des Landes in seiner Hand haben. Kritiker sagen allerdings, dass die Wahlen elementare de mokratisch­e Voraussetz­ungen nicht erfüllt haben.
Foto: Yuri Kadobnov, afp Wer kommt denn da hinter dem Vorhang vor? Der russische Präsident Wladimir Putin wird auch in Zukunft die Geschicke des Landes in seiner Hand haben. Kritiker sagen allerdings, dass die Wahlen elementare de mokratisch­e Voraussetz­ungen nicht erfüllt haben.

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