Weshalb musste Ernst Lossa sterben?
In seinem Roman „Nebel im August“erzählt Robert Domes eindringlich, wie ein Junge in die Euthanasie-Falle der Nazis gerät. Jetzt ist das Drama auf der Bühne zu sehen
In kaltes Grau sind die sechs Frauen und Männer gekleidet. Ebenso grau sind die Wände gestrichen. Ein Krankenzimmer? Ein Gerichtssaal? Beides. In diesen tristen Mauern wird behandelt und verhandelt. Hier wird ein 14-jähriger Junge ermordet, und hier stehen die Täter vor Gericht, leugnen, verharmlosen, beschuldigen andere und entschuldigen sich. Bei „Nebel im August“in Memmingen verwandelt sich das Landestheater Schwaben in einen Ort des Horrors, wo Monster wüten, die aussehen wie normale Menschen.
Intendantin Kathrin Mädler bringt bei dieser Uraufführung Ungeheuerliches auf die Bühne: die sogenannte Euthanasie des Naziregimes, also das gnadenlose Auslöschen von angeblich lebensunwertem Leben. Dieses Leben erhält ein Gesicht. Es geht um Ernst Lossa, Kind aus einer jenischen Familie, das als „Zigeuner“diffamiert und – obwohl geistig gesund – als „triebhafter Psychopath“eingestuft wird. Sein Leben und Sterben ist eng mit unserer Region verbunden: Lossa, 1929 geboren, wuchs in Augsburg sowie in einem Erziehungsheim bei Dachau auf. 1942 wurde er in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingewiesen, 1943 in die Zweigstelle Irsee, wo ihn Pfleger im August 1944 mit einer Überdosis Morphium zu Tode spritzten.
Ein Irseer war es auch, der das kurze Leben von Ernst Lossa und den Mord an ihm aus dem Grau der Geschichte holte. Jahrelang hatte der Journalist Robert Domes die Biografie Lossas recherchiert und 2008 in einem einfühlsamen Roman veröffentlicht. Das Buch, ein „Longseller“, wurde zur Lektüre in vielen Schulen und ist inzwischen auch verfilmt worden.
Nun kommt ein Theaterstück hinzu. LTS-Chefin Kathrin Mädler war schon vor ihrem Start in Memmingen 2016 auf den Stoff aufmerksam geworden. renszene: John von Düffel („Vom Wasser“). Der dreht – wohl auch aus theaterpraktischen Gründen – die Perspektive um und erzählt nicht aus der Opfer-, sondern aus Tätersicht. Das hat den Romanautor Domes zuerst irritiert, letztlich aber überzeugt. Lässt sich damit noch stärker die Frage ins Zentrum rücken: Wie konnte das passieren? Wer wurde warum zum Mörder oder zum Handlanger der Mörder?
Im Fall der Euthanasie-Morde von Kaufbeuren und Irsee wurde dies im Jahr 1949 vor dem Landgericht Augsburg verhandelt. Von Düffels Text basiert auf Akten und Zeugenaussagen. Aber er lässt nicht einfach einen Prozess ablaufen, sondern konstruiert eine Collage mit Faktenberichten und Spielszenen. Anfangs geht es – fast zu lange – um Euthanasie generell und die Frage, mit welchen Methoden man sich des Lebensunwerten entledigen kann. Erst in der zweiten Hälfte rückt Ernst Lossa ins Zentrum. Alles ist sehr düster. Der einzige Lichtblick: ein Kind, das die grauen Wände mit bunten Motiven bemalt. Ein poetischer Gegenpol zu all dem Irrsinn.
Regisseurin Mädler hat (zusammen mit dem für Bühne und Kostüme verantwortlichen Ulrich Leitner) für das 100-minütige Dokumentarstück eine – man mag dieses Wort hier fast nicht verwenden – lebendige Form gefunden. Der Krankenzimmer-Gerichtssaal wirkt wie ein hermetisches Labor, in dem die Figuren sich fast experimentell bewegen und die Perspektiven sich ständig verändern. Wobei der Richter als Untersuchungsleiter nicht recht weiterkommt. Das Dokumentarische geht fließend ins Gespielte über – und umgekehrt. Beklemmend und bildstark setzen die sechs Schauspieler des Landestheaters dies in ständig wechselnden Rollen in Szene. Grausamer Höhepunkt: der Mord an Ernst Lossa.
So gerät „Nebel im August“zu einer Geschichtsstunde ohne Mief, zu einer Ethiklektion ohne Moralinsäure. Wobei Moralisches natürlich dauernd mitschwingt. In fast jedem Satz geht es um Schuld und Sühne, um Verantwortung und Vertuschung, um existenzielle Fragen nach Obrigkeitshörigkeit, Selbstgerechtigkeit und Unmenschlichkeit. Ja, Hitler und sein Regime hatten willige Helfer.
Am Ende wandeln sich die Deckenlampen zu Scheinwerfern, die nach Schuldigen suchen für die hunderte getöteter Kinder in Kaufbauren und Irsee. Aber wollen die Richter überhaupt Täter finden und Strafen aussprechen für die Mörder und ihre Helfershelfer? Die Urteile, die sie sprechen, erscheinen jedenfalls lächerlich. Der Direktor der Anstalt etwa, Valentin Faltlhauser, wurde zwar zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, musste allerdings die Strafe nie antreten und wurde 1954 begnadigt. Andere Angeklagte kamen ähnlich glimpflich davon. Er spazierte, oft mit Cockerspaniel und Kamera, durch die Welt, schaute genau hin und hielt seine Beobachtungen in Wort und Bild fest. In der Nacht zum Sonntag ist der Autor und Fotograf Michael Rutschky mit 74 Jahren nach längerer Krankheit in Berlin gestorben. Der gebürtige Berliner, im Hessischen aufgewachsen, galt lange als Teil der Westberliner Bohème – im besten Sinne. Er schrieb Bücher („Wie wir Amerikaner wurden“; „Das Merkbuch. Eine Vatergeschichte“) und arbeitete für Zeitungen und Zeitschriften ebenso wie für Radio und Fernsehen. Rutschky, der seit langem im kaum veränderten Ambiente seiner Kreuzberger Wohnung lebte, analysierte bis kurz vor dem Tod mit Leidenschaft in kleinen Runden die Veränderungen seiner Umwelt. Die Schriftstellerin und Trägerin des Augsburger Brechtpreises 2018, Nino Haratischwili, ist froh, dass ihr Roman „Das achte Leben“viele Menschen neugierig auf ihr Heimatland Georgien gemacht habe. Viele Leser erzählten ihr, dass sie wegen des Romans einen Georgien-Urlaub planten, sagte die in Deutschland lebende Autorin in Leipzig. Zudem erzählten ihr viele Georgierinnen, dass sie wegen des Buchs auf ihre Herkunft angesprochen würden und sich wahrgenommen fühlten. „Als ich 2003 nach Deutschland kam, musste ich immer erklären: Nein, es ist nicht der US-Bundesstaat und es ist auch nicht Russland.“Georgien präsentiert seine Literatur im Herbst als Gastland der Frankfurter Buchmesse.