Die Angst der französischen Juden
Mireille Knoll hat den Holocaust überlebt. Nun wurde die 85-Jährige in ihrer Wohnung in Paris ermordet. Viele jüdische Bürger denken darüber nach, das Land zu verlassen
Sie kannte ihren mutmaßlichen Mörder, seit er ein siebenjähriger Junge war. Jener Mann, der Mireille Knoll am Freitag mit elf Messerstichen getötet und anschließend ihren Körper sowie ihre Pariser Wohnung in Brand gesetzt haben soll, war ein Nachbar, mit dem die 85-Jährige bis dahin in einem guten Verhältnis gestanden hatte. Seine Tat erschüttert Frankreich nicht nur durch ihre Grausamkeit, sondern auch durch das Motiv, das dahinter vermutet wird: Antisemitismus. Gestern leitete die Justiz ein Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Tötung gegen den 29-Jährigen, der muslimischen Glaubens ist, sowie einen 21-jährigen mutmaßlichen Komplizen ein. Wurde Mireille Knoll umgebracht, weil sie Jüdin war? Einer Polizeiquelle zufolge sollen die beiden Männer dies angegeben haben.
Unklar erscheint, ob sie die alte Dame ausrauben wollten und möglicherweise einem Klischee folgend dachten, als Jüdin müsse sie zwangsläufig reich sein. Dem Anwalt der Familie, Gilles-William Goldnadel, zufolge war sie „eine extrem bescheidene Frau“, bei der es „absolut nichts Wertvolles zu stehlen“gab. Seit Jahren lebte Mireille Knoll alleine in einer Sozialwohnung in Paris, wo ihre Kinder sie oft besuchten – so wie der Nachbar. Bei ihm wurde später das Handy der alten Dame gefunden. Den Behörden war er wegen Diebstahls und sexueller Gewalt bekannt, der Komplize wegen Diebstahls mit Gewaltanwendung.
„Großmutter glaubte nicht an das Böse. Das ist vielleicht der Grund, warum sie nicht mehr unter uns ist“, sagte ihre Enkelin Noa Goldfarb, die in Israel lebt. Dabei hatte Mireille Knoll als Kind Schlimmes erlebt: Sie befand sich unter den Juden, die im Juli 1942 von den französischen Nazi-Kollaborateuren bei einer Massenrazzia im Wintervelodrom, einem Pariser Sportstadion, festgenommen wurden. Anders als tausende andere Menschen entkam sie jedoch der Deportation in die Vernichtungslager in Osteuropa. Sie floh nach Portugal, kehrte nach dem Krieg nach Paris zurück und heiratete einen Mann, der das Konzen- trationslager Auschwitz überlebt hatte. Knoll engagierte sich nicht aktiv in der jüdischen Gemeinde; im Gegensatz zu der orthodoxen Jüdin Sarah Halimi, die ebenfalls vor einem Jahr von einem Nachbarn getötet wurde. Dieser warf sie aus dem Fenster, Beleidigungen und „Allahu Akbar“rufend.
Es sei immer schwer zu beweisen, dass eine Tat antisemitisch motiviert sei, sagte der Präsident des Zentralrates der jüdischen Vereinigungen in Frankreich, Francis Kalifat, im Gespräch mit unserer Zeitung. „Wir möchten, dass die Beweislast umgedreht wird und es nicht am Opfer ist, zu beweisen, dass es sich um eine antisemitische Tat gehandelt hat, sondern am Täter, dass er nicht aus Judenhass agierte.“Dass seit einigen Jahren erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Frauen, Männer und Kinder in Frankreich ermordet würden, nur weil sie Juden seien, sei erschreckend. Besonders schockierten die Morde 2012 an drei Kindern und einem Rabbiner in einer jüdischen Schule in Toulouse sowie die blutige Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt in Paris im Januar 2015. „Viele französische Juden fühlen sich hier nicht in Sicherheit und alleingelassen“, sagt Kalifat. Neben den brutalen Gewalttaten, deren Zahl in den vergangenen Jahren zunahm, gebe es auch einen „alltäglichen Antisemitismus“, der sich durch Beleidigungen, Graffitis und Hassbotschaften im Internet ausdrücke.
Die Zahl von französischen Juden, die nach Israel auswandern, war in den Jahren 2015 und 2016 von etwa 2000 auf bis zu 7000 angestiegen. „Neu ist, dass auch viele junge Paare und Familien mit Kindern unter ihnen waren“, sagt Kalifat. Erst allmählich nehme ihre Zahl wieder ab. Ein Gefühl der Sicherheit könne es aber nicht geben, gerade nach dem Mord an Mireille Knoll. Heute findet ein Gedenkmarsch für sie statt.
Nach Berichten über antisemitische Vorfälle an Schulen hat Lehrerverbandspräsident HeinzPeter Meidinger der Politik Versäumnisse vorgeworfen. „Man stößt an Grenzen, wenn man den Eindruck hat: Die Politik interessiert das nicht.“Er bemängelte, erst nach einem öffentlichen Aufschrei schaue die Politik auf betroffene Schulen. Nötig sei nachhaltigere Hilfe. „Was wir bräuchten, ist, dass an jeder Schule klar ist, an wen man sich wenden kann“, sagte Meidinger. Viele Schüler würden sich gar nicht erst trauen, derartige Vorfälle zu melden. Es brauche daher fortgebildetes Personal wie Schulpsychologen oder Vertrauenslehrer – ihnen müsse man aber auch „entsprechende Zeitressourcen“geben.
Anlass für die aktuelle Debatte ist der Fall an einer Berliner Grundschule, wo ein jüdisches Mädchen bedroht worden sein soll. Inzwischen hat sich der Vater des betroffenen Kindes zu Wort gemeldet. Es gehe bei dem Vorfall gar nicht speziell um Antisemitismus, sagte der 41-Jährige und fügte hinzu: „Es geht darum, dass Kinder aus muslimischen Elternhäusern andere Kinder verfolgen oder mobben, nur weil sie nicht an Allah glauben.“Dabei sei völlig egal, ob es sich um Christen, Atheisten, Juden oder andere handele. Die Tochter des Mannes wurde in den vergangenen Jahren mehrfach von muslimischen Schülern angepöbelt. Auch mit dem Tode sei ihr deswegen von muslimischen Mitschülern gedroht worden, berichtet sie.
Das Problem sei längst nicht nur auf Berlin beschränkt, betonte Lehrerverbandspräsident Meidinger. Er kenne zahlreiche Fälle aus anderen Ballungsgebieten wie dem Ruhrgebiet, Frankfurt am Main oder Stuttgart. „Wir haben mit Sicherheit eine Zunahme dieser Fälle, die nicht nur gefühlt ist“, warnte er. Als Hauptproblem bezeichnete er das „Aufeinandertreffen einer säkularen Gesellschaft mit Migrationsgruppen mit starker Religiosität – und teilweise Fundamentalisierung“. Seiner Ansicht nach leiden viele Schulen auch unter „räumlich verfehlter Migrationspolitik“. In Problemgegenden gebe es häufig einen sehr hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund, während dieser in anderen Gegenden teilweise bei unter fünf Prozent liege.