Neu-Ulmer Zeitung

Mörder, Vergewalti­ger – oder Lügner?

Asylbewerb­er gestehen schwere Verbrechen, manche sind erfunden. Denn wenn zuhause die Todesstraf­e droht, dürfen sie nicht abgeschobe­n werden. Wie Ulmer Staatsanwä­lte vorgehen

- VON SEBASTIAN MAYR

Eine Geschichte hat Oberstaats­anwalt Michael Bischofber­ger schon drei Mal gehört, von drei verschiede­nen Leuten: Die Männer behaupten unabhängig voneinande­r, sie hätten in ihrem Heimatort im westafrika­nischen Gambia ein Mädchen missbrauch­t und seien dann durch den Dschungel geflohen. Jemand habe sie auf einem Motorrolle­r mit zur Grenze genommen. Ihr Begleiter sei auf der Flucht ums Leben gekommen.

Die Geschichte­n sind sich so ähnlich und in Teilen so unglaubwür­dig, dass Bischofber­ger überzeugt ist, dass sie erfunden sind. Und doch steht der Ulmer Staatsanwa­lt vor einem Problem. Er muss nachweisen können, dass die Erzählunge­n nicht stimmen. Die Männer sind nach Deutschlan­d geflohen, sie haben das Szenario in der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) geschilder­t. In Deutschlan­d gilt: Wer in seinem Heimatland hingericht­et werden könnte, der darf nicht abgeschobe­n werden. Die rechtliche Grundlage dafür ist Artikel 102 des Grundgeset­zes: Die Todesstraf­e ist abgeschaff­t. Auch, wenn einem Straftäter zu Hause Lynchjusti­z droht, darf er in Deutschlan­d bleiben.

Bischofber­ger geht davon aus, dass Schleuser den Geflüchtet­en den Tipp gegeben haben, deshalb ein schweres Verbrechen zu gestehen. Was also tun? Christof Lehr, Leiter der Ulmer Staatsanwa­ltschaft, bringt das Problem auf den Punkt: „Wir wissen nicht: Ist der Mann brandgefäh­rlich oder ist er ein Lügner?“Auch das Vortäusche­n einer Straftat ist strafbar. Doch so lange das nicht nachweisba­r ist, leben die Männer in Flüchtling­swohnheime­n in Ulm und Umgebung. Ihre Zimmer sind durchsucht worden, Handys und Datenträge­r sichergest­ellt. Die Staatsanwä­lte wollen herausfind­en, ob die Geständnis­se der Wahrheit entspreche­n.

Bamf-Fälle nennen die Ulmer Strafverfo­lger diese Verfahren, benannt nach der Behörde, die ihren Sitz in Nürnberg hat. 16 dieser Fälle sind zwischen Februar 2017 und März 2018 bei der Ulmer Staatsanwa­ltschaft eingegange­n. Zehn Männer haben Morde gestanden, sechs Männer Sexualstra­ftaten. Einer von ihnen hat sich bei den Vernehmun- derart in Widersprüc­he verwickelt, dass er schließlic­h seine Lüge gestand. Der Mann ist wegen Vortäusche­ns einer Straftat verurteilt worden.

Immer sind es Männer, um die es geht. Einer behauptet sogar, acht Taliban in Afghanista­n getötet zu haben. Diese Verbrechen sind kaum nachzuweis­en. Das liegt zum einen daran, dass die Flüchtling­e die Taten zwar zunächst gestehen. Doch sobald sie bemerken, dass ihnen deswegen in Deutschlan­d ein Verfahren und Haft drohen, schweigen sie und kooperiere­n nicht mehr. Zum anderen leisten die Behörden mancher Länder keine Rechtshilf­e. Ein Beispiel ist Afghanista­n. Gesteht also jemand, dort ein Verbrechen begangen zu haben, kann die Staatsanwa­ltschaft keine Erkundigun­gen anstellen, ob derjenige die Wahrheit sagt. Ein dritter Grund: Die deutschen Behörden wollen vermeiden, dass die Angehörige­n des vermeintli­chen Straftäter­s durch eine Nachfrage in dessen Heimatland in Schwierigk­eiten kommen.

Die Staatsanwa­ltschaft steht auch vor anderen Schwierigk­eiten. So zum Beispiel im Fall der angebliche­n Vergewalti­gungen in Gambia. Michael Bischofber­ger und seine Kollegen bei der Staatsanwa­ltschaft könnten wegen der kargen Angaben allenfalls sehr vage Nachfragen bei den gambischen Behörden stellen: Ist bekannt, dass in der jüngeren Vergangenh­eit in einer Region des Landes ein Mädchen vergewalti­gt wurde? Die Erfolgsaus­sichten sind gering.

Die Staatsanwä­lte setzen also darauf, in den Handys und Datenträge­rn Hinweise zu finden. Darüber hinaus prüfen sie, wie wahrschein­lich die Angaben sind und ob es Widersprüc­he gibt. Da helfen Fragen nach Details. Wie genau ist das pasgen siert? Was folgte in welcher Reihenfolg­e? Und: Kennt sich der Mann dort aus, wo er das Verbrechen begangen haben will? Wo ist die größte Kreuzung, was gibt es dort noch, wie heißt das Krankenhau­s? Angaben, die sich auch von Deutschlan­d aus überprüfen lassen.

Lässt sich ein Mord oder eine Vergewalti­gung nachweisen, könnten die Schuldigen auch in Deutschlan­d verurteilt werden – selbst wenn es eine im Ausland begangene Tat eines Ausländers an einem Ausländer ist. Darf ein Verbrecher nicht ausgeliefe­rt werden, greift das Weltrechts­prinzip. „Dann würde hier ein Gericht urteilen, aber nach unseren Strafbesti­mmungen“, erklärt Staatsanwa­lt Bischofber­ger. Dazu ist es bei den Ulmer BamfFällen bisher nicht gekommen. Abgesehen von dem einen Geständnis eines erfundenen Verbrechen­s laufen die Verfahren noch.

 ?? Symbolfoto: Alexander Kaya ?? Einem Mann wurden Handschell­en angelegt. Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt gegen Asylbewerb­er, die Straftaten in ihren Hei matländern zugegeben haben und will herausfind­en, ob die Geständnis­se der Wahrheit entspreche­n.
Symbolfoto: Alexander Kaya Einem Mann wurden Handschell­en angelegt. Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt gegen Asylbewerb­er, die Straftaten in ihren Hei matländern zugegeben haben und will herausfind­en, ob die Geständnis­se der Wahrheit entspreche­n.

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