Die Kippa darf er nur tragen, wenn die Mutter dabei ist
brauchen? Die Mutter dreier Kinder will trotzdem nicht nach Israel auswandern. „Wir sind Franzosen. Wir fühlen uns hier zu Hause.“Aber fühlen sie sich auch sicher?
Es ist eine Frage, die man stellen muss, seit der bestialische Mord an der 85-jährigen Jüdin Mireille Knoll das Land erschüttert hat. Tausende haben sich am Gedenkmarsch für die alte Dame beteiligt, die in ihrer Wohnung in Paris mit elf Messerstichen getötet und danach angezündet worden war. Ein paar Demonstranten trugen Israel-Fahnen. Andere zeigten Fotos von der Frau mit dem gutmütigen Lächeln. Humorvoll und lebensfroh sei sie gewesen, sagte ihre Nachbarin Claudette.
Dabei hatte Mireille Knoll Schlimmes erlebt. Keine zehn Jahre war sie alt, als sie im Sommer 1942 mit mehr als 13000 Juden in Paris von französischen Nazi-Kollaborateuren festgenommen wurde; der Deportation in osteuropäische Todeslager entkam sie dank ihres brasilianischen Passes. Mit ihrer Mutter floh sie nach Portugal, kam später zurück nach Paris und heiratete einen Auschwitz-Überlebenden, der vor mehreren Jahren starb. Zwei Söhne zog das Paar in der Wohnung groß, in der Knoll ihren Tod fand.
Beim mutmaßlichen Haupttäter handelt es sich um den 28 Jahre alten Yassine M. Der Nachbar kannte die Frau von klein auf, besuchte sie ab und zu. Er und ein weiterer Tatverdächtiger, der Obdachlose Alex M., beschuldigen sich gegenseitig der Tat. Alex M. behauptet, Yassine M. habe „Allahu Akbar“, „Gott ist groß“, gerufen, bevor er auf Mireille Knoll einstach. Beide wussten, dass sie jüdisch, wenn auch nicht gläubig war. Die Männer sollen sich noch vor der Tat unterhalten haben, dass Juden oft wohlhabend seien – was auf die in bescheidenen Verhältnissen lebende Mireille Knoll keineswegs zutraf. Die Justiz ermittelt wegen schweren Diebstahls und vorsätzlicher Tötung aus einem antisemitischen Motiv heraus.
Auch Emmanuel Macron folgte schnell dieser Auslegung. „Der Mörder hat eine unschuldige und wehrlose Frau getötet, weil sie Jüdin war“, sagte der Präsident. Französische Medien berichteten zuletzt, die Ermittler hätten keine Anzeichen von Judenhass bei Yassine M. feststellen können. Dennoch räumte Innenminister Gérard Collomb ein, dass sich antisemitische Übergriffe im Land zuletzt vervielfacht haben. „Juden haben heute in Frankreich Angst“, das dürfe nicht sein.
Dass Polizei und Politik inzwischen schnell von antisemitischen Motiven sprechen, liegt auch an den Versäumnissen im Fall Sarah Halimi: Die 65-jährige Jüdin war im April 2017 von ihrem Nachbarn aus dem Bett gezerrt, zu Tode geprügelt und aus dem Fenster ihrer Pariser Wohnung gestürzt worden. Mehrmals soll der Mann antijüdische Beschimpfungen und „Allahu Akbar“gerufen haben. Trotzdem dauerte es elf Monate, bis die Staatsanwaltschaft Antisemitismus als mögliches Tatmotiv festhielt.
„Lange haben sich die Juden in Frankreich alleingelassen gefühlt“, sagt Francis Kalifat, Präsident des Zentralverbandes der französischen Juden, Crif. Die Regierung will nun den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus verstärken, Hassparolen im Internet sollen verstärkt ins Visier geraten. Kalifat aber fordert härtere Strafen und einen entschlosseneren Kampf gegen Salafismus. Eines ist ihm dabei wichtig: „Es gibt Antisemitismus in Frankreich, und dieser reduziert sich nicht nur auf Muslime. Aber Frankreich ist nicht pauschal ein antisemitisches Land.“
Das Problem ist im Nachbarland auch so groß, weil die jüdische Gemeinschaft mit 550000 Mitgliedern die größte in Europa ist. Besonders sichtbar wird sie im Marais, dem traditionell jüdischen Viertel im Osten von Paris. In der stimmungsvollen Rue des Rosiers gibt es die besten Falafel der Stadt, Bäckereien verkaufen typisches Gebäck, ultraorthodoxe Männer mit ihren Rauschebärten bevölkern die Straßen. Doch das ist die Ausnahme; meist wird jüdisches Leben diskret gelebt. Aus gutem Grund, bedenkt man die brutalen Übergriffe der letzten Jahre.
2006 wurde Ilan Halimi, 25, Sohn einer jüdisch-marokkanischen Familie, von der „Gang der Barbaren“entführt, wochenlang gefoltert und schließlich ermordet. Das Motiv: der vermeintliche „Reichtum aller Juden“. Im Frühjahr 2012 erschoss der Islamist Mohamed Merah in einer jüdischen Schule in Toulouse drei Kinder und einen Rabbiner. Kurz nach dem Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo im Januar 2015 wurden bei einer Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt in Paris vier Menschen getötet. Im Januar gab es im Pariser Vorort Sarcelles, auch „Klein-Jerusalem“genannt, kurz hintereinander Angriffe auf ein 15-jähriges Mädchen und einen achtjährigen Jungen, die sichtbar jüdische Zeichen trugen. Im vergangenen Jahr wurden Juden, die weniger als ein Prozent der französischen Gesellschaft ausmachen, Opfer von 38 Prozent der gezählten Gewalttaten. Premierminister Édouard Philippe warnte vor einer „neuen Form von gewalttätigem und brutalem Antisemitismus, der sich auf immer offenere Art und Weise in unserem Land ausdrückt“.
Wer kann, zieht um. Weg aus Gegenden mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil und starken sozialen Spannungen, dorthin, wo es ruhiger ist – nach Vincennes, ins Marais oder in den 11. Stadtbezirk, wo Mireille Knoll wohnte. Jüdischen Vereinigungen zufolge sank die Zahl der Juden im nördlichen Vorort Aulnay-sous-Bois in wenigen Jahren von 600 auf 100; in Clichy-sous-Bois von 400 auf 80.
Sarcelles nordöstlich von Paris galt lange als Paradebeispiel für das harmonische Miteinander der Religionen. Mehr als 80 verschiedene Nationalitäten leben hier. In den letzten Jahren aber hat sich die Stimmung gedreht und aufgeheizt, sagt Alain, der in einer koscheren Metzgerei arbeitet. „Es ist nicht mehr wie früher. Die Probleme kommen von der jungen Generation. Da ist richtiger Hass gegen die Juden. Unerklärlicher Hass.“Einmal wird eine selbst gebastelte Granate in einen jüdischen Lebensmittelladen geworfen. Ein andermal wird „dreckiger Jude“an eine Häuserwand geschmiert.