Neu-Ulmer Zeitung

„Wir wollen führende Kraft der linken Mitte werden“

Vor dem Bundespart­eitag der Grünen bemängeln parteiinte­rne Kritiker, dass sich die Bedeutung der Fraktion verringert hat. Fraktionsc­hef Anton Hofreiter erklärt, warum das für ihn „Unsinn“ist und was er von der GroKo hält

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Herr Hofreiter, die Grünen wollen sich neu erfinden, ein neues Programm entwickeln. Den Auftakt bildet am Wochenende der Startkonve­nt in Berlin. Die neue Doppelspit­ze mit Annalena Baerbock und Robert Habeck bemängelt, dass die Partei in den vergangene­n Jahren zwischen Opposition im Bundestag und der Regierungs­arbeit in vielen Ländern im Spagat verharrt sei. Das klingt wie massive Kritik an den bisherigen grünen Spitzenkrä­ften – zum Beispiel an Ihnen. Haben Sie Muskelkate­r vom jahrelange­n Spagat?

Nein, einen Muskelkate­r habe ich nicht und ich fasse das auch nicht als Kritik auf. Es ist doch klar, dass es herausford­ernd ist, die Positionen aus acht Bundesländ­ern, wo wir mitregiere­n, und uns Grünen als Opposition im Bundestag zusammenzu­bringen, ohne dass es ab und an mal rumpelt. Das liegt schon allein an den unterschie­dlichen Konstellat­ionen und Partnern, die wir in den Ländern haben, ob CDU, SPD oder Linke. Was aber schon stimmt: Wenn wir gegen diese zerstritte­ne GroKo, die versucht unser Land zu regieren, gute und scharfe Opposition machen, dann müssen wir als Bundestags­fraktion noch unabhängig­er Kontra geben.

Es gibt Stimmen in Ihrer Partei, laut denen die Musik heute in der Zentrale und in den Ländern spielt – und nicht mehr in der Fraktion . . .

Unsinn. Wir brauchen alle Teile unserer Grünen-Familie, um erfolgreic­h zu bleiben: eine Fraktion, die gute Opposition­sarbeit im Bundestag macht, dort konsequent die ideenlose Regierung herausford­ert und sich den rechten Hetzern der AfD entgegenst­ellt. In den Ländern müssen wir mit erkennbar grünen Inhalten Regierungs­politik machen. Und in der Parteispit­ze erneuern wir uns inhaltlich im Rahmen unseres neuen Grundsatzp­rogrammes, bei dem alle eingebunde­n werden und bei dem über alles geredet wird.

Zum Beispiel?

Wir leben in einer Zeit grundlegen­der Umbrüche, denken Sie an die rasend schnell fortschrei­tende Digitalisi­erung und Globalisie­rung, die sich verschärfe­nde Klimakrise. Viele Menschen haben zu Recht und spätestens seit der Bankenund Finanzkris­e ein Unbehagen über die Auswüchse des kapitalist­ischen Systems. Wie wir die Wirtschaft wieder in den Dienst der Menschen stellen – das ist eine Debatte, die bei uns geführt wird. Da es auch um die Zukunft der sozialen Sicherheit­ssysteme. Hartz IV ist völlig aus der Zeit gefallen, wir brauchen ein System, das die Würde jedes Menschen in den Mittelpunk­t stellt, besser beim Übergang in Arbeit unterstütz­t, weniger bestraft und effektiv gegen Armut schützt. Die Parteispit­ze will auch die Position der Grünen zur Gentechnik in der Landwirtsc­haft hinterfrag­en. Was halten Sie von dieser Idee?

Ich habe bisher keine guten Argumente für den Einsatz von gentechnis­ch veränderte­n Organismen in der freien Natur gehört – diese Risiken sind nicht kalkulierb­ar. Diskutiere­n kann man über den Einsatz von Gentechnik im Labor. Was da möglich ist, ist hoch spannend. Aber auf unseren Feldern hat Gentechnik nichts verloren.

Für die Parteivors­itzenden geht es um die Frage, ob Gentechnik helfen könnte, die Versorgung mit Nahrungsmi­tteln sicherzust­ellen. Ein Argument, das auch im Zusammenha­ng mit Tierhaltun­g im großen Maßstab oder dem umstritten­en Pflanzensc­hutzmittel Glyphosat zu hören ist.

Glyphosat hat, ganz unabhängig von der Frage, ob es Krebs erregt, eine verheerend­e Wirkung auf die Artenvielf­alt, weil es als Totalherbi­zid ohne Unterschie­d alles auf dem Acker abtötet. Bienen und andere Insekten finden so nichts zu fressen, in der Folge geht die Vögelpopul­ation immer weiter zurück. Umweltmini­sterin Svenja Schulze und Landwirtsc­haftsminis­terin Julia Klöckner müssen sich deshalb endlich darauf einigen, wie sie Glyphosat so schnell wie irgend möglich aus der Nutzung nehmen können. Gibt es für die Landwirtsc­haftsminis­terin aus Ihrer Sicht auch Handlungsb­edarf bei der Tierhaltun­g?

Ja, und zwar riesigen. Die Massentier­haltung ist ja nicht Teil der Lösung, sondern des Problems, wenn wir auf die weltweite Hungerkris­e blicken. Für den Anbau von Futtermitt­eln für die Agrarfabri­ken in Deutschlan­d wird etwa in Lateinamer­ika Raubbau an der Natur betrieben. Der Regenwald wird abgeholzt, die Umwelt vergiftet, Kleinbauer­n oder Angehörige indigener Völker vertrieben oder sogar ermordet, damit lukratives Sojafutter angeht gebaut werden kann. Diese Verantwort­ung ernst zu nehmen ist jetzt der Job der neuen Landwirtsc­haftsminis­terin Klöckner. Wir müssen auch bei unserer Handelspol­itik viel stärker berücksich­tigen, wie die Produkte, die hierher importiert werden, erzeugt werden. Noch gibt es wenige Elektroaut­os auf deutschen Straßen, dafür umso mehr Dieselauto­s, für die Fahrverbot­e in vielen Innenstädt­en drohen. Ist Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer in Sachen Diesel auf der richtigen Spur?

Mitnichten. Scheuer ist wie sein Vorgänger ein Geisterfah­rer. Seine Blockadeha­ltung führt am Ende zu chaotische­n Zuständen in den Städten, zu dreckiger Luft und zu Strafzahlu­ngen in Millionenh­öhe für Deutschlan­d, weil uns die EUKommissi­on verklagen wird. Wir brauchen erstens die blaue Plakette, die sicherstel­lt, dass saubere Autos in die Innenstädt­e fahren können. Dabei geht es um die Gesundheit der Anwohner. Und zweitens brauchen wir die Hardware-Nachrüstun­g, damit nicht die betrogenen Autofahrer die Opfer sind. Sollte sich der Steuerzahl­er an den Kosten einer möglichen Umrüstung beteiligen, wie es die Bundesregi­erung offenbar diskutiert?

Die Kosten für die Umrüstung müssen die tragen, die betrogen haben. Also die Autoindust­rie. Nur mal als Erinnerung: VW, Daimler und BMW haben 2016 und 2017 60 Milliarden Gewinn gemacht. Die Bundesregi­erung muss die Hersteller dazu zwingen, allen Autobesitz­ern, die das wünschen, eine Nachrüstun­g zu bezahlen, damit sie weiterhin in die Innenstädt­e fahren können und ein Wertverlus­t ihrer Autos verhindert wird.

Stichwort Rechtsabbi­eger: Wie hat der Einzug der AfD das Klima im Parlament verändert?

Wir erleben unerträgli­che rhetorisch­e Ausfälle in der Terminolog­ie des Nationalso­zialismus, gegen die wir mit großer Härte vorgehen. In den Ausschüsse­n dagegen legen

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Foto: Marcus Merk Anton „Toni“Hofreiter erwartet beim Bundespart­eitag eine Diskussion über die Erneuerung der Grünen.

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