Kettenbrief bedroht Kinder mit dem Tod
Eine Computerstimme kündigt über WhatsApp Morde an. Jetzt greift die Polizei ein
Das Mädchen konnte tagelang nicht richtig schlafen. „Sie schaut ständig, ob ich da bin“, erzählt Bianca Müller von ihrer Tochter. „Und wenn sie in den Garten geht, will sie, dass die Terrassentür offen bleibt.“Vor ein paar Tagen habe das angefangen, an dem Abend, als die Zehnjährige eine Sprachnachricht aufs Handy bekam, bei der es sogar ihre Mutter gruselte. Eine Computerstimme droht darin, das Mädchen, ihre Freunde und Eltern „in einer brutalen Weise umzubringen“, wenn sie die Nachricht nicht an „mindestens 20 Leute“weiterschicke.
Über den Messenger-Dienst WhatsApp verbreitet sich der Kettenbrief schnell. Müllers Tochter besucht die Mittelschule Krumbach, doch auch Kinder in Bad Wörishofen Brief kommt, sei im Moment „absolut nicht eingrenzbar“. Der Urheber könne schließlich überall sitzen, auch im Ausland. Um zu ermitteln, braucht die Polizei konkrete Ansätze. Außerdem sei nicht klar, wann die Nachricht verfasst wurde. Sie kursierte offenbar schon mehrfach – mal als Textbotschaft, mal als Sprachnachricht, wie Eltern gegenüber unserer Zeitung berichten. Auf den Urheber, wenn er denn jemals gefunden werden sollte, wartet ein Verfahren. „Er bedroht in seiner Nachricht aktiv Menschen mit dem Tod. Das ist definitiv eine Straftat“, erklärt der Polizeisprecher. Den Kindern könne man keine Vorwürfe machen. „Sie schicken den Brief schließlich nur aus Angst weiter.“
Kettenbriefe über WhatsApp sind nicht selten. Manche versprechen mehr Smileys, wenn man sie verbreitet, andere eine neue Farbe für die Smartphone-Tastatur. Um Silvester kündigte eine Pseudo-Botschaft „ein schlechtes Jahr“für den Empfänger an, sofern er sie ignoriere. Kettenbriefe mit so krassem Inhalt kommen weit seltener vor.
Bianca Müller aus Oberegg (Landkreis Günzburg) hat sich sofort an die Schule gewandt, nachdem ihre Tochter auf mehrfache Nachfrage doch noch verraten hatte, warum sie sich fürchte und nur noch bei Licht schlafen wolle. Karin Virag, Leiterin der Mittelschule Krumbach, hat daraufhin einen Warnbrief an die Eltern aufgesetzt. Der Schulsozialarbeiter berät Familien dazu, was am besten zu tun ist. „Es ist wichtig, dass Eltern ihre Kinder nicht unter Druck setzen und neugierig alle Inhalte auf deren Handy überprüfen“, sagt Virag. Im jetzigen Fall aber sollten sie schon kontrollieren, ob ihre Kinder die schockierende Ankündigung bekommen haben. „Die beste Lösung ist, sie sofort zu löschen.“Bianca Müller hat mit ihrer Tochter über die Nachricht gesprochen. „Ich habe ihr gesagt, dass der Absender nur ein dummer Mensch ist, der anderen Angst machen will und dass niemandem etwas passieren wird. Aber aus einem Kinderkopf bekommt man so was nur schwer heraus.“
Eine gewisse Routine hat Thorsten Haselau schon. Doch heute ist es anders. Weil der 56-Jährige gehbehindert ist, ist er immer wieder auf die Hilfe der Bereitschaft des Roten Kreuzes angewiesen, die ihn aus seiner Wohnung abholt. An anderen Tagen geht es um Besuche bei Haselaus Mutter, zu deren Wohnung eine „blöde“Treppe führt. So drückt es der 56-Jährige aus. An diesem Freitagmorgen muss er seine Wohnung in der Neu-Ulmer Innenstadt verlassen, weil auf einer Baustelle in der Nähe eine 450 Kilo schwere Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft wird. Schon wieder.
Sorgen macht sich Thorsten Haselau deswegen nicht. „Das ist ja schon zwei Mal gut gegangen“, sagt er. Erst vor knapp vier Wochen hatten mehr als 12 000 Menschen ihre Wohnungen verlassen müssen, weil ein Blindgänger auf derselben Baustelle gefunden worden war. Und auch davor hatten Bauarbeiter dort bereits einmal einen Sprengkörper gefunden – evakuiert werden musste die Innenstadt beim ersten Mal nicht. Nun sind 10400 Neu-Ulmer Bürger betroffen und mehr als 600 Einsatzkräfte eingebunden, unter ihnen 330 Polizisten und knapp 100 Ehrenamtliche vom Bayerischen Roten Kreuz. „Wir profitieren von den Erfahrungen“, sagt BRKKreisbereitschaftsleiter Florian Schaich. Es ist ein Kraftakt für das Bayerische Rote Kreuz im Kreis Neu-Ulm, der Einsatz an einem Werktag stellt die Freiwilligen vor eine Herausforderung.
Thorsten Haselau hat auf die Helfer gewartet. Er geht mit Krücken zum Aufzug und lässt sich unten auf der Straße in einen Stuhl mit Rollen
In der Neu-Ulmer RatiopharmArena haben die Helfer Liegen für Patienten aufgebaut, die behandelt werden müssen – und Stühle und Tische für alle anderen, die nur eingeschränkt mobil sind. Thorsten Haselau geht zu Fuß vom Rettungswagen dorthin. Der 56-Jährige lehnt seine Krücken an den Tisch und lässt sich nieder. „Das wird jetzt eine Weile dauern“, sagt er.
Nicht alle Neu-Ulmer wollen das Sperrgebiet verlassen. In Trupps zieht die Polizei durch die Innenstadt, läutet an allen Türen. Knapp 60 Bürger bestehen darauf, in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Gut fünf Stunden dauert die Evakuierung, zwischen 8.20 und 13.25 Uhr sind die Einsatzkräfte in den Straßen von Neu-Ulm unterwegs. Kurz darauf geht es los, Sprengmeister Roger Flakowski entschärft den 450 Kilo schweren Blindgänger. „Die Zünder haben keine Probleme gemacht“, sagt er später. Die Herausforderungen sind andere: Kies hatte sich am Sprengkörper verfestigt, die Bombe muss zuerst sauber gemacht werden. Außerdem zieht ein Gewitter auf. Gegen halb zwei donnert es in Neu-Ulm. Die Bombe bleibt still. Die Gefahr ist gebannt – und Thorsten Haselau darf wieder zurück in seine Wohnung. Ein Lastwagen ist in der Nacht zum Freitag auf der A 8 zwischen Sulzemoos und Dachau von der Straße abgekommen und hat bis zum Morgen eine stundenlange Sperrung in Richtung München verursacht. Der Fahrer streifte laut Polizei mit seinem Gefährt über mehrere hundert Meter die Leitplanke, bis er zum Stehen kam. Zur Bergung des mit Gefahrgut beladenen Anhängers wurden alle Fahrbahnen in Richtung München und zwei nach Stuttgart gesperrt. Die Umleitung war laut Polizei am Morgen überfüllt, Autofahrer mussten lange Wartezeiten in Kauf nehmen. (AZ)