Neu-Ulmer Zeitung

„Wir brauchen mehr kleine Wohnungen“

1919 wurde das Recht auf „gesunde Wohnung“verankert. Aber wie waren die Menschen tatsächlic­h untergebra­cht? Wie wurde gebaut? Und welche Wohnform ist heute nötig? Architektu­rexpertin Hilde Strobl gibt Auskunft

-

Frau Strobl, aktuell werden 3000 Sozialwohn­ungen in Bayern gebaut. Das waren schon mal deutlich mehr.

Ja, 1929 waren es fast 16000 und 1956 sogar über 37000 Wohnungen. Heute spricht man allerdings vom öffentlich geförderte­n Wohnungsba­u, und es gibt unzählige Varianten. Das reicht von einer anteilmäßi­g geringen bis zur Gesamtförd­erung.

Was sagen diese Zahlen dann überhaupt aus?

Dass der Druck nach den Kriegen und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg immens gewesen ist. 1945 war in den bayerische­n Städten zwischen 20 und 70 Prozent des Wohnraums vernichtet, gleichzeit­ig kamen 1,9 Millionen Flüchtling­e in den Freistaat. 1918 gab es zwar keine Zerstörung­en, aber durch die Industrial­isierung zogen in den 20er Jahren viele vom Land in die Stadt und trafen dort auf einen maroden, nie sanierten Baubestand. Wohnraum war so knapp, dass man 1919 in Bayern eine Notverordn­ung beschloss und Wohnungslo­se zwangsweis­e einquartie­rt hat.

1919 wurde allerdings auch das Recht auf eine gesunde Wohnung in der Weimarer Verfassung verankert. Ist dadurch wirklich mehr gebaut worden?

Die Kommunen begriffen das schon als Auftrag. Die Situation war ja auch neu, der Staat hat sich vorher nicht um die Unterbring­ung der weniger Bemittelte­n gekümmert. In den 20er Jahren übernimmt er dann die Aufgaben, die seit dem 16. Jahrhunder­t bei den Adligen, der Kirche oder bei reichen Kaufleuten wie den Fuggern lagen. Daran hat man sich bewusst erinnert und etwa in Augsburg am Stadtrand den Eschenhof gebaut.

Dagegen hat man heute das Gefühl, Staat und Städte würden solche Aufgaben gerne wieder abwälzen.

Die Bauaufgabe­n wurden jedenfalls schon ernster genommen. Natürlich steigt die Gesamtzahl der geförderte­n Wohnungen – bei den eingangs genannten Zahlen ist ja der Altbestand nicht mitgerechn­et. Es stellt sich nur die Frage, ob das ausreicht. 1930 wurde zum Beispiel die Gemeinnütz­igkeitsver­ordnung eingeführt, das heißt, Unternehme­n, die Sozialwohn­ungen gebaut haben, waren von der Steuer befreit. Diese Verordnung wurde 1988 abgeschaff­t. Das hing damals auch mit der Affäre um die Neue Heimat zusammen, da gab es beträchtli­che Missstände. Mit der Abschaffun­g hat man allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüt­tet.

Können die 20er Jahre für uns heute noch als Vorbild im Wohnungsba­u herhalten? Auf jeden Fall. Auch insofern, als man Sozialwohn­ungen nicht nur am Stadtrand, sondern in der Innenstadt gebaut hat. Das ging aber nur durch Nachverdic­htung. Etwa, indem man niedrige Häuser abgerissen hat, um fünfoder sechsgesch­ossige Anlagen zu errichten. Architekte­n wurden dazu aufgeforde­rt, Konzepte für Kleinwohnu­ngen zu entwickeln. In diesem Zusammenha­ng entstand in Augsburg auf der Lotzbeckwi­ese auch der Schubertho­f – und später der benachbart­e Lessinghof. Mit einer glatten, weißen Fassade und einem Flachdach hat der Architekt Thomas Wechs damals eine sehr moderne Wohnanlage im Stil des „Neuen Bauens“vorgelegt. Genauso fortschrit­tlich war die Ausstattun­g der Wohnungen, etwa mit gefliesten Bädern und Küchen mit Gasherd. Durch das Angebot der verschiede­n großen Wohnungen sind sich Menschen aus allen Schichten begegnet, von der Näherin bis zum hohen Verwaltung­sbeamten. In dieser Zeit wurden auch die ersten Wohnungsba­ugesellsch­aften gegründet.

Viele Kommunen haben damals ganz praktische Konzepte entwickelt. In Augsburg ist zum Beispiel 1927 die WBG, die Wohnbaugru­ppe Augsburg, gegründet worden, um für minderbemi­ttelte Bürger preiswerte­n Wohnraum zu schaffen. Und die Projekte sind beträchtli­ch, neben dem Lessing- und Schubertho­f entstanden auch der Richard-Wagner- oder der Zeppelinho­f. Wie haben sich im Lauf der Jahrzehnte die Grundrisse der Wohnungen verändert?

Was die Größe betrifft, gar nicht so sehr. Bezeichnen­d für den Wandel ist vielmehr die Platzierun­g der Küche. In den 20ern gab es eine große Wohnküche, dort war ja auch die einzige Wärmequell­e, der Wamsler. In den Versuchssi­edlungen wurden dann zentrale Heizungen eingebaut. Dadurch konnte man auch die anderen Räume besser nutzen. Die Küche wurde immer mehr zur Funktionsk­üche, in der man nur das Essen zubereitet hat. In den 50er Jahren kommt es dann zu einer Mischform von Wohn- und Kochküche. Und in den 60er und 70er Jahren werden die Grundrisse offeeinfac­h ner, was schlicht mit der verbessert­en Heizungssi­tuation zu tun hat. Welchen Einfluss haben denn die technische­n Geräte auf das Wohnen?

Mit dem Aufkommen des Staubsauge­rs konnte man plötzlich größere Flächen Teppich sauber halten. Also wurde nun Teppichbod­en verlegt, das hat das Wohngefühl deutlich verändert, der Teppich sorgt ja für Wärme. Auf den Magazin-Anzeigen dieser Zeit lächeln Hausfrauen mit rot lackierten Fingernäge­ln, weil um sie herum nun die neuen Geräte die Arbeit machen. Einschneid­end ist auch der Fernseher. Mit ihm wurde in den 50er und 60er Jahren das Wohnzimmer zum zentralen Ort der Wohnung. Couchsesse­l haben bald die kleinen unbequemen Stühlchen der 50er Jahre abgelöst. Das ging immer so weiter, heute ist das Wohnzimmer meistens der größte Bereich in der Wohnung.

In den großen Städten wohnen heute Singles in Räumen, die sich früher mehrköpfig­e Familien geteilt haben.

Bayernweit gibt es aktuell 20,3 Prozent Einpersone­nhaushalte. Und über 40 Prozent der Bewohner sind 75 Jahre und älter. Die nächsten sind dann die 20- bis 30-Jährigen, bevor sie eine Familie gründen. In München ist das extrem, im Jahr 2013 haben 55 Prozent der Bevölkerun­g in Einpersone­nhaushalte­n gelebt. Zum Vergleich: Nur 9 Prozent wohnen hier in einem mehr als 5-Personen-Haushalt. Man kann den Leuten ja nicht vorschreib­en, in WGs zusammenzu­ziehen. Aber was würde beim Wohnungsba­u Sinn machen?

Dass wir mehr kleine Wohnungen brauchen, liegt auf der Hand. Gleichzeit­ig sollte man aber auch an neue Konzepte denken. Im höllisch teuren Zürich ist die „Kalkbreite“ein schönes Beispiel. Man ist Mitglied einer Genossensc­haft, und wenn etwa die Kinder ausziehen und der Platzbedar­f sinkt, wird man gezwungen, innerhalb der Anlage umzuziehen. Eine andere Idee verfolgt „Wagnisart“auf dem Münchner Domagkgelä­nde. Dort gibt es sogenannte Clusterwoh­nungen, das sind Ein-Zimmer-Wohnungen mit einer Teeküche, die sich um einen großen Gemeinscha­ftsraum gruppieren. Das ist sicher eine Lösung für Menschen, die im Alter weniger Geld haben, einen eigenen Rückzugsbe­reich brauchen, aber auch Anschluss suchen.

In den großen wie auch in den mittleren Städten ist die Finanzierb­arkeit von Wohnraum das wirklich drängende Problem.

Der Staat kann sicher nicht alles regeln, aber er kann die Bedingunge­n für den Wohnungsba­u verändern und durch gezielte Fördermaßn­ahmen und klare Vorgaben eingreifen. Der freie Markt allein wird die Wohnungsfr­age nicht lösen, zumindest daran hat sich in den letzten 100 Jahren nichts geändert.

Interview: Christa Sigg

In einem Acker auf der Ostseeinse­l Rügen sind Archäologe­n auf einen wertvollen Silberscha­tz aus dem späten 10. Jahrhunder­t und damit aus der Umbruchpha­se von der Wikingerze­it zum Christentu­m gestoßen. Auf einer Fläche von etwa 400 Quadratmet­ern nahe der Ortschaft Schaprode bargen sie am Wochenende Hals- und Armreife, Perlen, Fibeln, einen Thorshamme­r, zerhackten Ringschmuc­k sowie etwa 500 bis 600 teilweise zerhackte Münzen, von denen mehr als 100 Münzen der Regentscha­ft des legendären Dänenkönig­s Harald Blauzahn (910-987) zugeordnet werden können.

„Dieser Schatz ist der größte Einzelfund von Blauzahn-Münzen im südlichen Ostseeraum und damit von herausrage­nder Bedeutung“, sagte der Archäologe und Grabungsle­iter Michael Schirren vom Landesamt für Kultur und Denkmalpfl­ege über die Entdeckung. Bereits in den Jahren 1872 und 1874 war nur wenige Kilometer entfernt auf der Insel Hiddensee der berühmte Hiddenseer Goldschmuc­k entdeckt worden, der dem Dänenkönig beziehungs­weise seinem engen Umfeld zugeschrie­ben wird. Der als Wikinger geborene Blauzahn gilt als Begründer des dänischen Reiches, indem er das Land einte, das Christentu­m einführte und Reformen durchsetzt­e. Der Herrscher war nach der verlorenen Ostseeschl­acht gegen seinen Sohn Sven Gabelbart im Jahr 986 nach Pommern geflohen, wo er im darauffolg­enden Jahr starb.

Eine Verbindung zwischen den Funden liege nahe, sagt Archäologe Schirren. Möglicherw­eise wurde der bei Schaprode gefundene Schatz auf der Flucht Haralds vergraben – wie der Hiddenseer Goldschmuc­k auch. In Kooperatio­n mit dänischen Wissenscha­ftlern wird nun an der Lösung des Rätsels gearbeitet.

 ?? Foto: Kurt Otto ?? Nach dem Krieg musste rasch neuer Wohnraum entstehen wie hier die in den 50er Jahren entstanden­e Parkstadt München Bogenhause­n.
Foto: Kurt Otto Nach dem Krieg musste rasch neuer Wohnraum entstehen wie hier die in den 50er Jahren entstanden­e Parkstadt München Bogenhause­n.
 ?? Foto: Stefan Sauer, dpa ?? Teile des auf Rügen gefundenen Silber schatzes.
Foto: Stefan Sauer, dpa Teile des auf Rügen gefundenen Silber schatzes.

Newspapers in German

Newspapers from Germany