Neu-Ulmer Zeitung

Freunde zünden Kerzen an, halten sich an den Händen

-

vergangene­n drei Jahren ist nach Angaben der Polizei die Zahl der Morde in der britischen Hauptstadt um 40 Prozent gestiegen. Messerstec­hereien, Schießerei­en, Schlägerei­en – wöchentlic­h bestimmen Attacken die Schlagzeil­en der Medien. Auffällig ist, dass immer mehr junge Menschen zu Opfern der Gewalt werden.

Wie Tanesha Melbourne, die offenbar lediglich in einen Streit zwischen zwei Gangs geraten ist. Heute noch bringen Freunde Blumen in jene schmucklos­e Chalgrove Road in Tottenham, wo sich verwechsel­bare Reihenhäus­er aneinander­drängen und sich triste Sozialbaut­en kaum vom grauen Himmel unterschei­den. Sie zünden Kerzen an, halten sich an den Händen, trauern.

„Ein sinnloser Tod“, sagt Jedi. Der Londoner ist so etwas wie ein Aktivist und empfängt in Notting Hill in West-London mit seiner Hündin an seiner Seite und dem Handy am Ohr. Er trägt Dreadlocks und am Arm blitzt eine große goldene Uhr in der Sonne auf. Früher, da führte der Brite, geschätzt Anfang 30, einen ähnlichen Lebensstil wie jene Jugendlich­en heute. Kriminalit­ät galt irgendwie als cool, auch wenn Jedi selbst erleben musste, wie Freunde „umsonst“starben. Ein enger Kumpel etwa wollte nur kurz zum Supermarkt und sollte nie wieder heimkehren, weil er in einen Streit geraten war und dabei niedergest­ochen wurde. Jedi erzählt von solchen Dingen, als gehörten sie zum Alltag eines Teenagers in London. Er zuckt die Schultern. Es war eben so. Heute ist die Situation ja noch schlimmer.

Über private Dinge will der Vater von zwei Kindern nicht reden, sein Alter nicht sagen und auch Jedi soll als Name genügen. Stattdesse­n möchte er, der der Gewalt abgeschwor­en hat, viel lieber die Situation auf Londons Straßen ändern. Dafür hat er mit einigen Bekannten bereits vor Monaten die Organisati­on G.A.N.G gegründet, ein Akronym des Mottos „Guiding A New Generation“– eine neue Generation geleiten, anleiten, führen. Die Gruppe mit ihren rund drei Dutzend Mitglieder­n hat sich vorgenomme­n, die durch Messer und Schusswaff­en verursacht­en Todesfälle zu reduzieren. Das funktionie­re allein durch Prävention, sagt Jedi und geht deshalb direkt in die Schulen, redet mit und Vertretern unterschie­dlicher Religionen, mit Verantwort­lichen lokaler Projekte und Gangmitgli­edern oder sich verloren fühlenden Jugendlich­en.

„Wir brauchen realistisc­he Lösungen“, sagt Jedi. Die Teenager müssten lernen, Konflikte ohne Messer oder Fäuste zu lösen und sich den Konsequenz­en gewalttäti­ger Attacken bewusst werden. Er wünscht sich zudem, dass mehr Prominente aus der Musik-, Film-, Sport- oder Modeszene, die selbst aus solchen Kreisen stammen, ihren Einfluss nutzen würden. Was ist cool? „Sich um die Familie und Gemeinscha­ft zu kümmern und ein erfolgreic­hes langes Leben zu führen, ist gangstermä­ßig“, sagt Jedi – „und nicht wahllose Gewalttate­n zu verüben, im Gefängnis zu sitzen oder so mit einem Messer verletzt zu werden, dass man einen künstliche­n Darmausgan­g braucht.“Das müssten nicht nur Leute wie er, sondern auch prominente Vorbilder vermitteln. „Zu ihnen schauen die Jugendlich­en auf.“

Von mehr Polizisten auf Londons Straßen hält er dagegen nichts. Seit Monaten streitet sich die Politik darüber, wer für den Anstieg der Gewalt verantwort­lich ist. David Lammy, der Labour-Abgeordnet­e für Tottenham, zeigt sich „zutiefst besorgt“über die Entwicklun­g in seiner Gegend, die sich „im EpizenSozi­alarbeiter­n trum“dieser wiederfind­e. Seiner Meinung nach ist der harte Sparkurs der konservati­ven Regierung schuld am Anstieg der Gewalt. Unter der damaligen Innenminis­terin und heutigen Premiermin­isterin Theresa May wurde im Zuge von Budgetkürz­ungen etwa seit 2010 die Zahl der Polizisten drastisch gesenkt. Waren es in England und Wales im Jahr 2009 noch 144 353 Beamte, kam die Belegschaf­t im vergangene­n September nur noch auf 121 929 – so wenig wie seit 20 Jahren nicht.

Aber gerade die „Bobbies“, wie die Straßenpol­izisten in Großbritan­nien genannt werden, seien in der Lage, innerhalb der Gemeinden wertvolle Informatio­nen zu sammeln,

 ?? Foto: Pribyl ?? Jedi war früher selbst kriminell, jetzt will er über Gewalt aufklären.
Foto: Pribyl Jedi war früher selbst kriminell, jetzt will er über Gewalt aufklären.

Newspapers in German

Newspapers from Germany