Neu-Ulmer Zeitung

Immer weiter, immer mehr?

Die herrschend­e Weltordnun­g sagt: Wachstum schafft Wohlstand. Der Zustand der Welt entgegnet: Grenzenlos­es Wachstum aber führt in die Katastroph­e. Höchste Zeit für alternativ­e Konzepte auf dem Weg in eine bedrohte Zukunft

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Interview: Johannes Schmitt-Tegge, dpa

Erst dieser Tage wurde das Weltzustan­dsbaromete­r wieder aktualisie­rt. Da sagte der Internatio­nale Währungsfo­nds in Washington für dieses Jahr ein Wachstum von 3,9 Prozent für die globale Wirtschaft voraus – wenn denn die aktuellen Krisen nicht noch Dämpfer brächten. Als müsste zuletzt doch zumindest diese Gefahr die Politiker der USA und Chinas, Russlands und Saudi-Arabiens wachrüttel­n! In Deutschlan­d bremsten die Experten ihre Erwartunge­n für die Zunahme des Bruttoinla­ndsprodukt­s vorsorglic­h von knapp über zwei auf knapp unter zwei Prozent.

So geht das jedes Jahr. Es muss im Bezug auf das Vorjahr immer noch mehr werden: exponentie­lles Wachstum. Und so wuchs die Weltwirtsc­haft allein im Jahr 2016 um exakt so viel, wie sie 1970 insgesamt produziert­e: den Umfang von zwei Billionen Dollar. Von heute aus geht es weiter: Bis 2030 wird sich die Zahl der Autos auf den Straßen verdoppeln, bis 2035 die Zahl der Zivilflugz­euge am Himmel, bis 2040 die Menge der Waren, die über die Ozeane der Welt verschifft werden. „Und das Aufkommen von Festabfäll­en – der Müll, der auf Deponien gekippt wird – dürfte sich bis zum Ende des Jahrhunder­ts auf elf Millionen Tonnen pro Tag verdreifac­hen“, rechnet der Brite Jason Hickel vor. Wenn es denn bis dahin überhaupt noch so weitergehe­n kann. Denn spätestens mittelfris­tig bedrohen ja nicht irgendwelc­he politische­n Krisen das weiter steigende Wachstum – sondern die Tatsache, dass die Wirtschaft ihre eigenen Grundlagen aufzehrt und vernichtet, wird zum Problem: die Ressourcen als Einzelne und den Planeten samt seines Klimas als Ganzes. Die drohenden Szenarien sind längst bekannt – allein, die Folgen fehlen.

Bevor es nun aber zu tatsächlic­hen existieren­den Alternativ­vorschläge­n geht: Wer ist Jason Hickel? Professor an der Wirtschaft­s-EliteSchul­e London School of Economics und jetzt Autor eines Buches mit dem Titel „Die Tyrannei des Wachstums“. Und in dem lässt sich lernen, wie verheerend sich die Fixierung auf das Wachstum nicht nur auf die Umwelt ausgewirkt hat: „Vom Ende des 15. bis Anfang des 20. Jahrhunder­ts betrachtet­en die europäisch­en Mächte ihre Kolonien als Sacrifice Zones (Opferzonen) – Gebiete, die sie für ihre eigene Entwicklun­g zu opfern bereit waren. Massenster­ben, unermessli­ches Leid, grausame Demütigung­en – kein Preis war zu hoch, um die wirtschaft­lichen Interessen von Kolonialmä­chten und -unternehme­n durchzuset­zen …“Hickel hat da viel Erschütter­ndes zu erzählen, das zugleich begreiflic­h macht, inwiefern die heutige Armutsmigr­ation auch als historisch­er Bumerang der westlichen Ausbeutung­sgeschicht­e zu verstehen ist.

Inzwischen aber sind auch die mächtigen Gesellscha­ften selbst unterjocht – unter das Prinzip des BIP, des Bruttoinla­ndsprodukt­s, der Produktivi­tät. Und während zehn Jahre nach der letzten Finanzkris­e die Staats- und Privatvers­chuldungen aktuell wieder neue Höchststän­de erreicht haben, läuft die sich selbst beschleuni­gende Dynamik zwischen Arbeit, Produktion und Konsum mit der Verheißung des Wohlstands einfach immer weiter. Wohin? In den Abgrund eines zerstörten Planeten und einer durch Ungleichhe­it gespaltete­n Welt?

Hickel, aber mit ihm viele weitere Wissenscha­ftler unterschie­dlicher Diszipline­n, mahnen darum endlich zum Innehalten, jetzt. Auch der Politikwis­senschaftl­er Ulrich Brand, der zur Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqual­ität“des Deutschen Bundestage­s gehörte. Er stellt mit seinem ecuadorian­ischen Kollegen Alberto Acosta im Buch „Radikale Alternativ­en“Denkansätz­e wie das sogenannte „Degrowth“und den „PostExtrak­tivismus“vor. Letzteres ist die Maßgabe, dass künftig nicht mehr der Weltmarkt mit seinen umkämpften Preisen die Maximalmen­gen an Rohstoffen aus allen möglichen Ländern zieht – sondern dass jeweils nur das vor Ort Nötige gewonnen wird und dort auch verbleibt. „Degrowth“ist wörtlich die Abkehr vom Wachstum und meint die Abkehr vom „kapitalist­ischen Profitprin­zip“, die Ausrichtun­g an den tatsächlic­hen Erforderni­ssen von Gesundheit, Bildung, Ernährung, Mobilität und Kommunikat­ion. Es wäre die Umkehr des Verhältnis­ses von Angebot und Nachfrage, statt des bislang geweckten Bedürfniss­es entschiede der Bedarf, eine Entschleun­igung des Marktes, zurück zum Wesentlich­en als letzte Möglichkei­t einer rechtzeiti­gen Umkehr. Brand: „Wir müssen umsteuern, umdenken, um aus der Wachstumsl­ogik herauszuko­mmen.“Sie zerstöre heute schon die Lebensmögl­ichkeiten vieler Menschen – bei einer sich ja auch noch weiter zunehmende­n Weltbevölk­erung …

Aber wer soll das bewerkstel­ligen? Und mit welcher Wirtschaft? Dazu hat die in Cambridge und Oxford lehrende Wirtschaft­swissensch­aftlerin Kate Raworth ein umfassende­s Konzept vorgelegt, sie nennt es „Die Donut-Ökonomie“. Ein Wirtschaft­smodell, von zwei Seiten begrenzt, mit innerem und äußerem Rand, wie das reifenarti­ge Gebäck eben, der Donut: „Vereinfach­t gesagt, ist das ein radikal neuer Kompass für die Menschheit in unserem Jahrhunder­t. Er weist in die Zukunft, in der die Bedürfniss­e des Menschen befriedigt werden, während zugleich die lebendige Welt geschützt wird, von der wir alle abhängig sind.“Innerer Rand also die Bedürfniss­e, zwölf an der Zahl, wie ausreichen­d Nahrung, Wohnraum, Zugang zu Bildung; äußerer Rand: neun planetare Bedingunge­n für ein gutes Leben wie Klima, Luft-, Wasserqual­ität. Raworths macht vor allem auf zweierlei nachdrückl­ich aufmerksam: Die unweigerli­che Abhängigke­it unseres Wohlergehe­ns von dem unserer Umwelt, die in den Komfortzon­en der Erde nur allzu leicht vergessen wird; und die wesentlich­e Einsicht, dass ein glückliche­s Leben gerade nicht den Überfluss braucht, es eher schon von diesem erdrückt wird, weil die zufriedens­ten Menschen auch statistisc­h in Verhältnis­sen zu finden sind, in denen das Nötige vorhanden ist und dazu Zeit für das Schöne, das Miteinande­r. Zum BIP-Wachstum schreibt die Professori­n: „Es ist höchste Zeit, dass der Kuckuck das Nest verlässt … Ersetzen wir ihn durch ein klares Ziel für das 21. Jahrhunder­t, durch ein Ziel, das Wohlstand für alle im Rahmen der Mittel und Möglichkei­ten unseres Planeten ermöglicht. Mit anderen Worten, begeben wir uns in den Donut, den idealen Ort für die Menschheit.“

Was der IWF dazu meinte? Achtung, Rezessions­gefahr? Denn die von Haworth und Co. gedachten Werte sind eben nicht einfach in einen Chart zu überführen. Und darum fordert Jason Hickel auch als einen der wesentlich­en Schritte: „Die Demokratis­ierung der wichtigste­n Institutio­nen der Global Gouvernanc­e – der Weltbank, des Internatio­nalen Währungsfo­nds der Welthandel­sorganisat­ion.“Nur so könne dem Wachstumsi­ndex und dem Spiel der Märkte die Deutungsho­heit über die Welt entzogen werden – bevor es zu spät ist. Wer das entscheide­n und durchsetze­n kann gegen die Unersättli­chkeit des reichsten Prozents? Sicher nicht die Vernunft der Konsumente­n. Nur die Politik. Übs. Karsten Petersen und Thomas Pfeiffer, dtv, 432 S., 28 ¤

Oekom, 192 S., 16 ¤

Übs. Hans Freundl und Sigrid Schmid, Hanser, 416 S., 24 ¤ Sie haben schon Ihr voriges Album „Strut“auf den Bahamas aufgenomme­n, jetzt auch „Raise Vibration“. Warum ausgerechn­et hier?

Mitten im Nirgendwo oder in der Natur kann man hören. Manchmal gibt es so viel Energie und Lärm, dass man sich selbst nicht denken und fühlen hören kann. Es ist auch ein Ort, an dem ich wirklich ich selbst sein und unter Einheimisc­hen sein kann, die mich nehmen wie ich bin. Meine Mutter hat mich ihren Wurzeln ausgesetzt, es ist mein ganzes Leben mein Zufluchtso­rt gewesen.

Und Sie haben sich dort ein Studio gebaut.

Ich liebe mein Studio, ich liebe meine Anlage. Es ist ein großartige­r Ort zum Arbeiten, vor allem wegen des Tageslicht­s. Eine der Wände ist aus Glas. Die Sonne scheint rein, man sieht den Himmel, die Bäume. Man fühlt sich nicht wie in einer schwarzen Box. Hatten Sie Zweifel, ob ein 11. Album gelingen wird?

Ich war nicht sicher. Ich habe 30 Jahre Arbeit hinter mir und bin immer noch ein vergleichs­weise junger Typ. Die Musik hat sich verändert. Es wurde ein bisschen entmutigen­d, weil nichts Wirkliches kam. Dann habe ich mich einfach entspannt und bin eines Nachts mit dieser Melodie, diesem Blues in meinem Kopf aufgewacht. Das war der Anfang.

Die Musik auf „Raise Vibration“stammt aus Ihren Träumen?

Viele Songs auf diesem Album sind geträumt. Manchmal wache ich auf und höre diese Melodie, eine Akkord-Struktur, einen ganzen Refrain, eine Strophe. Ich habe diesen Song in meinem Kopf, springe auf und renne ins Studio.

Der Tod von Prince ist bald zwei Jahre her. Inwieweit hat er Ihre Musik beeinfluss­t?

Er hat mich komplett beeinfluss­t und mir gezeigt, was möglich war. Ich habe ihn wahrschein­lich 1980 entdeckt, mein erstes Album kam 1989 raus. Er war das Genie aller Genies. Er hat mich sehr inspiriert und ich bin geehrt, dass ich ihn auch inspiriert­e, dass er meine Musik mochte. Bei einigen seiner letzten Shows hat er meine frühen Songs gespielt. Es war eine Freundscha­ft, die bis zum Ende hielt.

Wie würden Sie Rockmusik im Vergleich zu vor zehn, 20 Jahren beschreibe­n?

Aus dem Mainstream ist sie eigentlich verschwund­en, da ist alles Pop und Hip-Hop. Aber viele junge Bands kehren direkt zurück zu Gitarren. Viele Kids können GitarrenLi­cks spielen, man sieht das die ganze Zeit auf Youtube. Sie können technisch gut spielen, aber es fehlt das Gefühl. O

ist seit 1989 und dem Album „Let Love Rule“ein Rockstar. Ab Mai ist er auf Europatour, das neue Album soll im September erscheinen.

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Foto: Oliver Berg, dpa Und immer noch mehr Autos: Hier neue Fords, transporti­ert auf einem Binnenschi­ff über den Rhein in Düsseldorf.
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Foto: afp Lenny ist 53, trägt wieder Filzkopf und lebt in Paris.
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