Der Techniker hatte plötzlich eine Pistole am Kopf
eines der fünf besten im Sowjetreich und eine Perle der sowjetischen Reiseagentur Intourist.
Alle Ausländer sollten hier logieren, Devisen ins Land spülen und daheim vom Wohlleben in der sowjetischen Republik berichten; zugleich war es praktisch, sie alle auf einmal im Blick zu haben. Die 80 verwanzten Zimmer waren außer für Journalisten und Politiker auch für im Ausland lebende Esten reserviert, die Verwandte in der alten Heimat besuchten. 1000 Mitarbeiter hatte das Haus, das sich heute als Teil der finnischen Gruppe Sokos Hotels 250 Angestellte leistet. Schuhmacher und Schneider, Friseure und Spitzenköche täuschten im Hotel Überfluss vor, von dem in der Stadt niemand etwas mitbekam. Französischer Wein und amerikanische Zigaretten waren hier frei verfügbar, während sich die Menschen draußen mit der Rationierung von Kartoffeln, Mehl und Fleisch plagten. Reisegruppen aus dem Ausland wurden am Hafen abgeholt und ins Hotel gebracht. Nur Friseuren und Kellnern war es erlaubt, mit ihnen zu sprechen – niemals über Politik.
Denn in diesem Hotel blieb wenig ungehört. Ein Foto an der Wand des heutigen Museums zeigt eine Dame, die allein an einem Tischchen sitzt, vor sich eine Kladde mit Notizen und ein Telefon. Sie war einer der Etagenwarte, die in jedem Stockwerk ein Auge auf die Gäste hatten. Ein anderer Job, der Estlands Unabhängigkeit nicht überdauerte, war der des Zutatenauswiegers. Er sorgte dafür, dass jede Fleischportion genau 75 Gramm wog, wobei Hühnchen nach Kiewer Art einen Fleischanteil von 82 Gramm aufweisen musste. Auch beim Geschirr empfahl es sich, genau hinzuschauen. Führerin Eva zeigt einen Brotteller aus dem Restaurant, der niemals in die Spülmaschine durfte – in seinem doppelten Boden befindet sich ein Mikrofon.
Auch die Mitarbeiter befanden sich unter ständiger Beobachtung. Bevor ein Bewerber einen Job antreten konnte, wurde sein Hintergrund durchleuchtet. Hatte ein Aspirant auch nur einen im Ausland lebenden Cousin, war er draußen. Wer das Auswahlverfahren bestand, erhielt einen Stempel auf den Personalbogen: „Genehmigt.“Eva: „Das bedeutete: Wir wissen mehr über dich als du selbst.“
Damit sich das jeder gut merken konnte, gab es Tests. Ein unscheinbares Portemonnaie diente so als Charakterprüfung der Beschäftigten. Wer die Börse öffnete, den traf ein verräterischer roter Tintenstrahl. Die Folge war Strafversetzung auf einen niedrigeren Posten oder die Auflage, sich durch Beschaffung relevanter Informationen in besseres Licht zu rücken.Exponate wie die auf Puppen gespannten und auf einem Feldbett ausgebreiteten KGB-Uniformen in der einstigen Spionagezentrale dienen vor allem der Verdichtung der Atmosphäre, da die Offiziere zumeist in Zivil ihrer Arbeit nachgingen. Die Medaille, die Brotschneiderin Helga für ihren Dienst am Volk erhielt, ist ebenso ausgestellt wie eine diskret mit Holz verkleidete Antenne und Eintrittskarten fürs Varieté Viru. Vier Rubel kosteten die begehrten Tickets im Jahr 1975. Dafür erwarteten die Besucher – Hotelgäste, verdiente Einheimische und Parteifunktionäre aus Moskau – ein gewagtes, ideologisch zweifelhaftes Programm eines hochkarätigen Ensembles estnischer Tänzerinnen und Sängerinnen sowie auf jedem Tisch ein Mikrofon im Blumengesteck.
Eva erinnert sich an die Zeit, in der das Hotel als westliche Insel im sozialistischen Alltag normalen Leuten verschlossen und sogar die in Moskau festgelegten Zimmerpreise geheime Verschlusssache waren. „Damit bin ich aufgewachsen.“Manche Anekdote haben ihr ältere Kollegen erzählt. Legendär ist die Geschichte des Technikers, der eine defekte Telefonleitung reparieren sollte. Er drang ins Allerheiligste vor, spürte unversehens den Lauf einer Pistole am Kopf und suchte schnell das Weite. Allerdings erinnerte er sich später daran, Männer mit Kopfhörern gesehen zu haben – was im Hotel kaum für Überraschung sorgte. Nicht umsonst verband ein rotes Telefon ohne Wählscheibe das Büro des Managers – der für seinen Job das Geschick eines Botschafters und das Fingerspitzengefühl eines Herzchirurgen benötigte – mit dem KGB-Hauptquartier in der Altstadt, während ein zweites, metallgefülltes Sicherheit vor eingeschmuggelten Mikrofonen bot. Tourismus und Überwachung gehörten im Traumhotel Viru zusammen wie Hammer und Sichel.