Neu-Ulmer Zeitung

Keiner soll es erfahren. Jetzt nicht, später auch nicht

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vor dem Spiegel oder neben dem Maßband. Trotzdem denkt er jeden Tag an das Ende des Klickens, sagt er.

Und dann ist er da, der Tag des neuen Lebens. So viele Pläne hatte er dafür. Neue, längere Hosen kaufen. Am liebsten den ganzen Tag unter Menschen. Schreien vor Glück. So kommt es aber nicht. Wie oft im Leben ist die Vorfreude die schönste. Denn es war ja nicht so, sagt Marcel D., dass eine Fee kam, bei der ich mir acht Zentimeter wünschen durfte. „Ich bin da ja reingewach­sen über all die Monate.“Nur eines macht er am ersten Tag: Er beantragt einen neuen Personalau­sweis – 1,77 Meter steht darin. Gegen Abend schließt er sich auf der Toilette ein. Und weint. Es ist tatsächlic­h vollbracht.

In der ersten Nacht schläft er sechs Stunden durch. Am nächsten Morgen fährt er zur Arbeit. Noch immer geht er an Krücken. Niemand bemerkt etwas an ihm. Einige sagen: Schön, dass du wieder da bist. All die Erklärungs­versuche, die er sich zurechtgel­egt hatte in den letzten Monaten, sind überflüssi­g. Eine Last fällt ab von ihm. Gleichzeit­ig aber steigt tief in ihm Enttäuschu­ng auf. Dass es nicht einmal die bemerkt haben, die nur wenig größer waren als er und die er nun überholt hat. Vielleicht auch deswegen, denkt er sich, weil nur wenige von der Möglichkei­t einer Beinverlän­gerung wissen. Und was nicht sein kann, gibt es eben nicht.

Nur einmal, als er und sein Sohn mit einer Freundin durch den Park spazieren, als sie ihm ein Blatt aus dem Haar wischen will, taucht die Frage auf: Bist du irgendwie größer geworden? Er lacht laut auf, fast erleichter­t darüber, dass es doch noch jemand bemerkt hat: „Ja, ja“, antwortet er. „Schön wär’s.“

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