Er ist immer der Kleine geblieben
Stock. Auf der Glastür steht in weißer Schrift: „Betz Institute. Reach new Heights“, „Erreiche neue Höhen“. Drei Viertel der Patienten, die hierherkommen, sind Männer. Sie eint derselbe Wunsch: größer zu werden. Weil sie sich zu klein fühlen, um glücklich zu sein oder zumindest zufrieden. Zu klein, um erfolgreich zu sein oder für den Erfolg respektiert zu werden. Zu klein, um Beschützer zu sein. Oder alles zusammen. Die meisten Männer, die den Weg hierher suchen, sind zwischen 1,58 und 1,74 Metern groß.
Marcel D. misst 1,69 Meter, als er sein erstes Gespräch mit Professor Augustin Betz hat. Der Arzt – sehnige Arme, weißes Haar, 1,79 Meter groß – verlängert seit 1994 Menschen. Er begrüßt Marcel D. mit festem Händedruck. Mit der Linken klopft er ihm leicht auf den Oberarm. Betz spricht ruhig und mit dem weichen, singenden Dialekt des Saarlandes. Alles, was der 65-Jährige sagt, klingt wie gesprochenes Zunicken, wie ein Stoßdämpfer für harte Wahrheiten. Jene beispielsweise, dass man nach einer Verlängerung zunächst einmal große Schmerzen zu erwarten habe.
In Betz’ Büro stehen neben dem Schreibtisch Podeste – fünf, acht, zehn Zentimeter hoch. Marcel D. soll sich, ohne die Schuhe mit den hohen Sohlen, auf jenes stellen, das sein Ziel ist. Er wählt das Acht-Zentimeter-Podest. Wie es sich anfühlt? „Gut“, sagt Marcel D. „Sehr gut.“
Ein Gefühl, das er nur von Fotos kennt, bei denen er sich immer auf Zehenspitzen stellte. Es begann mit dem Ende der Pubertät. Da wurde Marcel D. bewusst, dass er nicht mehr wachsen wird. Bis dahin hatte er gehofft, dass es noch einen Schub geben würde. Aber er blieb der Kleine. Kleiner als seine Freunde. Kleiner als seine kleine Schwester.
müssen sich auf eine schwere Zeit einstellen, wenn Sie sich dafür entscheiden“, sagt Betz. „Das ist der härteste Eingriff, den es gibt in der plastischen Chirurgie.“Dabei, sagt der Arzt, habe er ihn über 2000 Mal durchgeführt in den letzten 23 Jahren. „Nur, bitte“, sagt Betz, „tun Sie mir den Gefallen und hören Sie nicht auf bei fünf Zentimetern. Ziehen Sie es durch bis zu Ihrer Wunschgröße. Sie werden es bereuen, diese Qual auf sich genommen zu haben und mittendrin dann aufgegeben zu haben.“Marcel D. lächelt. „Nein, nein, keine Sorge. Ich zieh das durch. Das ist mein Lebenstraum.“
Als Marcel D. aus dem Büro ist, sagt Betz: „Mit meinem Skalpell kann ich psychische Probleme manchmal besser lösen als ein Psychologe. Denn meine Patienten leiden sehr unter ihrer Größe.“Das Leben, sagt Betz, ist anstrengender, wenn man klein ist. Vor allem bei Männern. Ist Körpergröße bei Männern also wichtiger als bei Frauen? „Eindeutig ja“, sagt Betz. Hat ein kleiner Mann ein großes Auto, heißt es: Der hat es wohl nötig. Ist ein kleiner Mann besonders durchsetzungsstark, heißt es: Der hat ein übersteigertes Geltungsbedürfnis. Nicolas Sarkozy als berühmtes Beispiel, Silvio Berlusconi oder Gerhard Schröder. Und fragt man eine Frau nach den Kriterien für ihren Traummann, sagt Betz, werde man wohl niemals hören: Auf jeden Fall muss er klein sein.
Marcel D. würde am Ende der Prozedur 1,77 Meter messen. Auf der Heimfahrt kreisen die Gedanken, wie das wohl wäre: Sich endlich auch mal im Stehen wohlfühlen. Die Entscheidung ist gefallen. Kein Gedanke an Schmerz. Nur Vorfreude auf die Vollendung seines Traums. Für 35 000 Euro je Bein.
Es ist der Tag der Operation. Am Vortag ist Marcel D. angereist, zusammen mit seiner Frau und dem Sohn, drei Jahre alt. Zwei Wochen nach seinem ersten Termin in Neun„Sie kirchen hat er ihr erzählt, dass er nicht beruflich unterwegs war, sondern bei Dr. Betz. Während der Operation, erklärt der Arzt, wird der Oberschenkelknochen zersägt und ein Teleskopnagel eingesetzt – der Schlüssel zum Wachstum. Dieser ist wie eine Autoantenne konstruiert, die sich ausfährt und die Lücke zwischen dem zersägten Knochen um einen Millimeter pro Tag in Richtung des Knies verlängert. Dann erst beginnt der Knochen zu wachsen – für jeden Zentimeter benötigt er 70 Tage, für acht Zentimeter gut anderthalb Jahre.
Sonne und blauer Himmel über Neunkirchen. Zimmer 519 aber ist abgedunkelt. Eine Woche nach der Operation sitzt Marcel D. auf dem Rand seines Bettes. Erschöpft. Neben ihm liegt ein Mann aus SaudiArabien, der immerzu wimmert. Marcel D. spricht leise. „Ich habe insgesamt fünf Stunden geschlafen in den letzten fünf Tagen“, sagt er. „Drei Tage nach der OP hat mich Dr. Betz das erste Mal geklickt. Es war die Hölle.“Er spricht von jenem mechanischen Vorgang, der die Verlängerung des Beins auslöst. Fünfzehn Mal Klicken pro Tag und Bein ergibt einen Millimeter Wachstum.
Jetzt ist das nächste Mal fällig. Marcel D. legt zittrig die Hand an sein gebeugtes Knie, atmet tief ein, presst den Mund zusammen und schließt die Augen. Dann drückt er den Oberschenkel fest nach außen, als müsste er die Innenseite dehnen. Ein leises klickendes Geräusch. Er stöhnt laut auf. Schlimmer aber ist der Rückweg, der das Klicken erst abschließt. Eine Minute braucht Marcel D., um sich zu überwinden. Dann drückt er den Schenkel nach innen, bis es – viel lauter diesmal – klickt. Noch lauter ist der Schrei, der ihm dabei entfährt.
Seine Frau ist vorgestern wieder abgereist, der Sohn muss in den Kindergarten. „So schlimm hätte ich es mir nicht vorgestellt“, sagt der Patient „Es ist wie ein dunkles Loch, in dem ich sitze.“7,7 Zentimeter hat er