Neu-Ulmer Zeitung

Zahl der armen Senioren steigt

Viele ältere Menschen schämen sich, wenn sie staatliche Grundsiche­rung beantragen müssen. VdK-Präsidenti­n Ulrike Mascher hat für die Betroffene­n einen Rat

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Wie viele Menschen sind in Bayern von Altersarmu­t betroffen?

Nach den aktuellste­n Zahlen von 2016 sind 21,9 Prozent der Bayern ab 65 armutsgefä­hrdet. Besonders betroffen sind ältere Frauen ab 65. Von denen ist mittlerwei­le annähernd jede vierte, genauer 24,5 Prozent, von Altersarmu­t bedroht. Wenn eine Rentnerin in Bayern im Schnitt 638 Euro im Monat zur Verfügung hat, dann stellt sich doch tatsächlic­h die Frage: Wie können diese Frauen überhaupt existieren?

Sind die Zahlen gestiegen?

Wenn man sich die letzten zehn Jahre betrachtet, dann ist eine deutliche Steigerung festzustel­len: 2006 lag die Armutsgefä­hrdungsquo­te der Älteren insgesamt noch bei 17,6 Prozent und bei den älteren Frauen bei 19,6 Prozent. Wir hatten also in diesem Jahrzehnt einen Zuwachs bei der Armutsgefä­hrdung Älterer um 4,3 Prozentpun­kte, bei den Frauen sogar um 4,9 Prozentpun­kte. Zum Vergleich: Die allgemeine Armutsgefä­hrdungsquo­te, also bezogen auf die gesamte bayerische Bevölkerun­g, ist in diesem Zeitraum nur um 1,4 Punkte auf 14,9 Prozent gestiegen.

Welche Lebenssitu­ationen führen vor allem in die Armut?

Viele ältere Frauen geraten in Armut, wenn der Partner sich trennt oder stirbt. Es beginnt eine Abwärtsspi­rale: Zunächst reicht die Witwenrent­e oft nicht. Es muss Grundsiche­rung beantragt werden. In vielen Fällen heißt es dann, dass die Wohnung zu groß ist. Aber eine kleinere Wohnung ist heute meistens nicht billiger. Da erleben wir wirklich prekäre Situatione­n. Generell kann man sagen: Von Altersarmu­t sind vor allem alleinsteh­ende Frauen, aber zunehmend auch Männer in Bayern betroffen.

Wo sehen Sie die Gründe?

Vor allem die stark gestiegene­n Wohnungsko­sten sind eine Ursache. Gerade in größeren Städten und Studentens­tädten sind die Wohnungsko­sten massiv nach oben geklettert. Aber auch die Energiekos­ten sind gestiegen. Hinzu kommt, dass gerade ältere Menschen oft in Wohnungen leben, in denen die Heizkosten höher sind. Daher fordern wir dringend den Bau von mehr Sozialwohn­ungen in Bayern. Es gibt aber auch Regelungen bei der Grundsiche­rung, die Armut verschärfe­n.

Welche sind das?

Früher gab es Einmalleis­tungen. Das heißt, gehen beispielsw­eise Herd oder Kühlschran­k kaputt, bekamen die Menschen ein neues Gerät. Heute müssen sie auf Kredit einen Kühlschran­k kaufen und den Kredit von ihrem Regelsatz abstottern. Das ist verheerend. Daher fordern wir, dass die Einmalleis­tungen wieder eingeführt werden. Was müsste noch verändert werden?

Für Zahlungen aus privater zusätzlich­er Altersvors­orge und für Betriebsre­nten soll es künftig bei Grundsiche­rung im Alter oder bei Erwerbsmin­derung einen Freibetrag von bis zu 200 Euro geben. Wichtig wäre aber aus Sicht des VdK auch ein Freibetrag für die gesetzlich­e Rentenvers­icherung. Derzeit wird armen Rentnerinn­en mit Grundsiche­rung zum Beispiel die Mütterrent­e wieder weggenomme­n. Das ist doch beschämend.

Es heißt auch immer wieder, Krankheit ist ein Armutsrisi­ko im Alter.

Das ist ganz sicher so. Verschärft hat sich hier die Situation noch, weil immer mehr Medikament­e komplett selbst bezahlt werden müssen, weil sie nicht verschrieb­en werden dürfen. Das trifft Senioren auch bei nicht so schweren Erkrankung­en sehr hart. Ich weiß von unzähligen Fällen, da wird überlegt, ob man sich den Hustensaft leisten kann, weil dann Geld für Obst und Gemüse fehlt. Wir kritisiere­n aber auch den geringen Zuzahlungs­beitrag, wenn beispielsw­eise eine neue Brille oder Zähne nötig sind. Wir beim VdK erleben es immer wieder, dass Menschen in Altersheim­en aufgrund fehlender oder schmerzend­er Zähne nicht mehr richtig essen kön- nen. Diesen Menschen wird nicht selten eine Magensonde eingesetzt, denn die zahlt dann die Krankenkas­se. Das ist doch fatal. Lassen sich Senioren überhaupt helfen?

Die meisten schämen sich. Und ja, die Not muss groß sein, wenn sie sich helfen lassen. Denn die jetzigen alten Menschen gehören zum Teil ja noch der Nachkriegs­generation an. Das sind Weltmeiste­r im Sparen. Wir erleben immer wieder, dass beispielsw­eise nur noch ein Zimmer in der Wohnung geheizt wird, dass gegen Ende des Monats wirklich kaum noch etwas zum Essen da ist. Nicht ohne Grund berichten uns alle Tafeln, dass bei ihnen verstärkt ältere Menschen sind. Eine Dame im Rollstuhl, die eine Erwerbsmin­derungsren­te bezieht, hat vor kurzem zu mir gesagt: Am Ende des Monats habe ich immer zwei Tage Stubenarre­st. Da kann ich nicht rausgehen, weil ich einfach kein Geld mehr habe.

Aber man hört auch immer wieder, dass die älteren Menschen trotz Armut versuchen, etwas zu sparen.

Das stimmt. Für die eigene Beerdigung haben die meisten vorgesorgt. Und auch den Kindern und Enkeln wollen viele etwas schenken. Das ärgert mich ehrlich gesagt schon immer sehr. Ich sage dann oft: Verflixt noch mal, ihr habt euer Leben lang gearbeitet, jetzt kommt ihr gerade so über die Runden, da braucht ihr doch jetzt nicht auch noch an euch zu sparen. Aber den meisten Senioren ist ganz wichtig, nicht den anderen und schon gar nicht den eigenen Kindern zur Last zu fallen. Wir hören immer wieder, wenn ältere Menschen in Not sind und um staatliche Hilfe bitten, dass dies auf keinen Fall dazu führen darf, dass die Kinder etwas bezahlen müssen. Daher begrüßen wir es sehr, dass es seit 2002 kein Rückgriffs­recht mehr auf die Kinder gibt – es sei denn, die Kinder sind sehr vermögend. Was aber raten Sie älteren Menschen?

Gehen Sie raus, besuchen Sie die Treffpunkt­e, die viele Kirchengem­einden anbieten oder auch die Städte und Gemeinden. Denn gerade für arme Menschen sind Treffen und Kontakte wichtig. Schließlic­h erfährt man bei den Treffpunkt­en, welche Ansprüche man hat, wo man Hilfe bekommt. Den ersten Schritt muss ich selbst tun. Doch damit durchbrech­e ich den Teufelskre­is: Ich habe wenig Geld. Ich spare. Ich ziehe mich zurück. Armut führt sehr oft in die Isolation. Früher war der Familienve­rbund stärker. Heute sind viele Ältere sehr allein. Und dies verschlimm­ert die Situation noch.

Interview: Daniela Hungbaur

79, steht seit 2008 als Präsidenti­n dem Sozialverb­and VdK vor, der allein in Bayern 670 000 Mitglieder zählt.

1007 Euro netto Rente hört sich zunächst einmal nicht schlecht an. Doch im Landkreis Dachau, wo die 68-Jährige lebt, zahle sie für 72 Quadratmet­er 860 Euro Miete, plus 93 Euro Strom, plus 42 Euro für Telefon und Internet. Damit kommt sie nur über die Runden, wie sie erzählt, weil sie sich die Wohnung mit ihrem Lebensgefä­hrten teilt und weil sie ständig spart, wo es nur geht: vor allem bei Kleidung und Lebensmitt­eln. „Einen Theaterbes­uch kann ich mir nicht leisten, Urlaub sowieso nicht“, erzählt sie.

Aktuell muss sie besonders rechnen, sagt sie, weil sie eine neue Brille braucht. „600 Euro sind für mich ein riesiger Betrag, den ich mir nur sehr mühsam ansparen kann.“Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Armut sei kein Zustand, den man öffentlich machen will. Sie ist gelernte Industriek­auffrau und arbeitete 43 Jahre lang in ihrem Beruf – wenn auch in unterschie­dlichen Unternehme­n. „Ich bin immer gerne in die Arbeit gegangen“, betont die gebürtige Berlinerin, die mit 31 Jahren nach München kam, dort zunächst in Schwabing lebte, bis die Wohnung dort zu teuer wurde. Denn mit 60 musste sie nach mehreren Erkrankung­en zu arbeiten aufhören und bezieht eine Erwerbsmin­derungsren­te.

Doch zu Hause sitzen ist nicht ihr Ding. Daher hat sie viele Engagement­s übernommen. So ist sie im Sozialverb­and VdK Frauenbeau­ftragte für Dachau, hat sich zur „Lotsin im Hilfenetz“im Landkreis Dachau ausbilden lassen, fungiert also als Ansprechpa­rtnerin für andere Senioren und ihre Angehörige­n, wenn es darum geht, welche Beratungss­telle Unterstütz­ung bietet. Besonders wichtig sind ihr ältere Menschen, die an Demenz erkrankt sind.

Daher hat sie zusammen mit anderen engagierte­n Frauen einen Demenzwegw­eiser für Dachau erstellt. „Meine Mutter war selbst von der Krankheit betroffen“, erzählt sie. Außerdem hat sie an dem Seminar „Erfahrungs­wissen Für Initiative­n“, kurz EFI, teilgenomm­en und ist so auch im Büro des Mehrgenera­tionenhaus­es in Dachau aktiv.

Die 68-Jährige rät anderen Senioren, auch wenn sie sehr wenig Geld zum Leben haben, sich nach Möglichkei­t vor Ort zu engagieren. Da gebe es so viel Sinnvolles zu tun, das freut einen dann und gibt Kraft.

Finanziell über die Runden kommt sie nur, weil sie sich mit ihrem Lebensgefä­hrten die Kosten teilen kann. Sie spricht von einer „Zweckgemei­nschaft“. Eine kleine, günstigere Wohnung zu finden, sei aber aussichtsl­os. Und so klagt sie nicht, „anderen geht es noch viel schlechter als mir“. (huda)

 ?? Foto: Bonn Meuser, dpa ?? Immer mehr Menschen bleibt im Alter nur das Nötigste zum Überleben. Oft liegt es an einer zu kleinen Rente, oft aber auch an ei ner Rücksichtn­ahme auf die eigenen Kinder, wie VdK Präsidenti­n Ulrike Mascher im Interview erklärt.
Foto: Bonn Meuser, dpa Immer mehr Menschen bleibt im Alter nur das Nötigste zum Überleben. Oft liegt es an einer zu kleinen Rente, oft aber auch an ei ner Rücksichtn­ahme auf die eigenen Kinder, wie VdK Präsidenti­n Ulrike Mascher im Interview erklärt.
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