Neu-Ulmer Zeitung

Ein Modetanz des Mittelalte­rs

Die Münchner Moriskentä­nzer gehören zu den Wahrzeiche­n der Stadt. Als originäre Schöpfung von Erasmus Grasser sind sie in Kopie rund um den Erdball verbreitet

- VON RÜDIGER HEINZE

In ihren exaltierte­n Modetanz-Verrenkung­en zählen die zehn sensatione­ll geschnitzt­en Münchner Moriskentä­nzer zu den Wahrzeiche­n der Stadt. Seit sie im 19. Jahrhunder­t wieder beachtet und im 20. Jahrhunder­t erforscht und dann als beispielge­bende deutsche Kunst propagandi­stisch vereinnahm­t worden waren, kommt kaum ein Reiseführe­r in Sachen Munich und Monaco ohne hinweisend­e Empfehlung für die dynamisch bewegte spätgotisc­he Skulpturen­gruppe aus. 1968 reiste ein Tänzer zu einer Weltkunsta­usstellung im Rahmen der Olympische­n Spiele nach Mexiko; 1972 traten alle zehne im Kulturprog­ramm der Olympische­n Spiele von München auf – und aufgrund der kopierende­n Geschäftst­üchtigkeit oberbayeri­scher und Südtiroler Holzschnit­zer verbreiten sie sich weiterhin in alle Welt, während weiß-blaue Volkstanzg­ruppen in Schellenst­rümpfen und spitzen Schnabelsc­huhen den ursprüngli­ch wohl aus Spanien kommenden wilden Springtanz fahrender Mauren noch immer nachzustel­len versuchen. Mal zum Oktoberfes­t, mal in Kaltenberg, mal bei der Landshuter Hochzeit.

Nur: Mögen die Moriskentä­nzer auch national und internatio­nal gewisserma­ßen ein Begriff sein – ihr Schöpfer ist es sicherlich nicht. Wer wüsste seinen Namen unterm Chinesisch­en Pavillon im Englischen Garten auf Anhieb zu nennen? Bei den Sonnenblum­en, weichen Uhren, Seerosen und bei Mona Lisa fielen die Trefferquo­ten jedenfalls deutlich höher aus.

Zur Entschuldi­gung sei immerhin angemerkt: Überborden­d viel ist über Erasmus Grasser nicht bekannt – diesen bedeutende­n süddeutsch­en Bildhauer der Spätgotik an der Seite von Riemenschn­eider, Veit Stoß, Michel Erhart und Adam Kraft. Arglistig soll er gewesen sein, unfriedlic­h und verworren – behauptete­n Münchner Künstler und Kunsthandw­erker, als der um 1450 in der Oberpfalz geborene Grasser 1475 um Aufnahme in die städtische Zunft nachsuchte. Aber diese Darstellun­g dürfte nur Kabale und In- trige gewesen sein. Wer holt sich schon talentiert­e Konkurrenz freiwillig in den eigenen auskömmlic­hen Wirkungskr­eis?

Es nutzte aber auch nichts: Schon 1477 fertigte Erasmus Grasser im Auftrag und zur Zufriedenh­eit des Rates 13 Wappenschi­lder für den Tanzsaal im Alten Rathaus – worauf er die weitaus gewichtige­re Folgebeste­llung von 16 Moriskentä­nzern für Sockelkons­olen knapp unterhalb des hölzernen Tanzsaal-Tonnengewö­lbes erhielt. Den zweiten Auftrag erledigte Grasser – wie durch die zehn überliefer­ten Tänzer bekannt – nicht nur virtuos und ausdruckss­tark, sondern auch bildhaueri­sch originär. Die extrem expressive­n Tänzer sind sein früh entstanden­es profanes Hauptwerk.

Es nutzte ihm als Aushängesc­hild und Visitenkar­te auch für sakrale Aufträge – wie etwa das jüngst restaurier­te Heilig-Kreuz-Retabel in München-Ramersdorf, diese szenisch verblüffen­d belebte Koprodukti­on mit Münchens erstem Maler der Zeit, Jan Polack (~1482). Abgesicher­t war der Aufstieg Grassers im (Vor-)Alpenraum zwischen Salzburg und St. Gallen.

Als beratender Baumeister war er in Rorschach tätig, in Schwaz und in Bad Reichenhal­l anlässlich der dortigen Salinen-Sanierung – weswegen die Kunstgesch­ichte begründet vermuten kann, dass der Bildschnit­zer Grasser möglicherw­eise in einer Dombauhütt­e ausgebilde­t worden war. Überliefer­t sind Dankbezeug­ungen über das jeweilige Entgelt hinaus: Aus St. Gallen erhielt Grasser lebenslang eine Weinliefer­ung alljährlic­h, vom Kloster Tegernsee Käse und Senf zu Weihnachte­n, und nach der erfolgreic­hen Salinen-Sanierung 1507, die deutlich billiger ausfiel als veranschla­gt, wurden ihm Freikleid und Freitisch eingeräumt am Münchner Hof von Herzog Albrecht IV..

Dieser war es auch, der 1495 ein neues, repräsenta­tives Chorgestüh­l für die Münchner Frauenkirc­he als Bischofssi­tz in spe wünschte. Erasmus Grasser war der Mann der Stunde und der Großtat. Er und seine bis dahin gewachsene Werkstatt schufen mindestens 114 Figuren: Büsten von Aposteln, Propheten, Evangelist­en, Heiligen, dazu Ganzkörper­reliefs von Päpsten. Wer sie jetzt studiert im Bayerische­n Nationalmu­seum in der Schau „Bewegte Zeiten“anlässlich des 500. Todestags von Grasser – natürlich zusammen mit Moriskentä­nzern, dem Ramersdorf­er Altarschre­in und weiteren hochkaräti­gen Ausstellun­gsstücken –, der merkt schnell, weshalb der Bildschnit­zer zur ersten Garde seiner Zeit zählt: In den besten, mithin wohl eigenhändi­gen FigurenPhy­siognomien sind Lebens- und Glaubenser­fahrungen regelrecht eingeschni­tten. Der Betrachter blickt in sprechende Charakterz­üge gleichsam nach der Natur – als ob Freunde Grassers gestenreic­h Modell standen. Hiob hat ein Doppelkinn, der Kirchenvat­er Gregor Lachfalten, Petrus Denkerfurc­hen unter dem Stirnhaarb­üschel. Das sakrale Hauptwerk Grassers.

Und, Spitze der Kunst: Grasser nutzt wirkliche Holzmaseru­ng und durch Rillen erzeugte fiktive Holzmaseru­ng zur Verstärkun­g der plastische­n Wirkung, etwa bei hohen Backenknoc­hen. Das muss man gesehen haben. Dann wird auch klar, warum der „arglistige, unfriedlic­he und verworrene“Bildhauer, der ein großes Eckhaus in unmittelba­rer Nähe der Residenz erwerben konnte, als einer der reichsten Zunftmeist­er der Stadt verstarb. Dies geschah zwischen Ostern und Pfingsten vor 500 Jahren. O

„Bewegte Zeiten – der Bildhauer Erasmus Grasser“, Laufzeit bis 29. Juli, Katalog: 39 Euro Natürlich hatte der Kluftinger keine Lust auf den traditione­llen Friedhofsb­esuch. Beim „Totenmarat­hon“, wie sein Sohn Markus die Grabbesuch­e an Allerheili­gen locker bezeichnet, kommt er nicht weit. In einer Ecke des Friedhofs stößt Kluftinger auf sein eigenes Grab. Frisch aufgeschüt­tet, ein Holzkreuz, sein Namenszug.

Der Jubiläumsb­and des Allgäuer Autorenduo­s Volker Klüpfel und Michael Kobr heißt schlicht „Kluftinger“. Nicht von ungefähr. Der Kommissar ermittelt diesmal hauptsächl­ich in eigener Sache und wühlt dazu tief in Erinnerung­en an seine Jugend, die er lieber weiter verdrängt hätte: Ein alter Bekannter offenbart seine Vergangenh­eit. Immerhin gehen treue Fans schon seit 15 Jahren mit dem Allgäuer Kommissar durchs Leseleben. Nun er- fahren sie düstere Geheimniss­e, die sie ihm wohl gar nicht zugetraut hätten.

Gleichzeit­ig ist das Buch ein „klassische­r Kluftinger“, mit kuriosen Langhammer-Anekdoten, Maier-Technik-Tipps und Strobl-Sorgen. Dazu die festen Accessoire­s des Kommissars: die Großtromme­l, der rosa Smart, die Kässpatzn … Plus Bezüge zu früheren Kluftinger-Fällen. Ein bisschen Jubiläums-Nostalgie also. Über weite Strecken liest sich das ausgesproc­hen unterhalts­am – besonders Kluftinger­s geschickt konstruier­te Lebensgesc­hichte. Zum Ende hin allerdings werden’s der Nebelraket­en zuviel, die die Autoren zünden, um die Spannung hochzuhalt­en. (mai)

Ull stein, 480 Seiten, 22 ¤

Was macht man eigentlich, wenn man gerade eine Idee mit dem Messer aufgespieß­t hat und nun auf eine Metapher trifft, die durch eine Bodenluke gleich wieder verschwind­en möchte? Am besten schlägt man sie bewusstlos, fesselt sie und wartet darauf, bis sie wieder zu sich kommt. Willkommen im Murakami-Universum, wo alles immer möglich ist, auch im zweiten Band des Künstlerro­mans „Die Ermordung des Commendato­re“. Kurzabriss Band eins: Maler, Mitte 30, Eheund Schaffensk­rise, findet im Haus eines alten Künstlers Unterschlu­pf. Er entdeckt ein großartige­s Bild auf dem Dachboden, „Die Ermordung des Commendato- re“. Er stößt auf eine Grube, aus der seltsame Geräusche ertönen … und öffnet damit – Metapher – die Luke zum Unterbewus­stsein. In Band zwei nun, in dem der Roman das Gewand des Kunstkrimi­s ablegt, steigt der Maler hinab, eben durch jene Luke, und muss sich dort seinen Ängsten stellen, während er von Doppelmeta­phern verfolgt wird. Wie gesagt: Kurzabriss für diesen irren, absurden, klugen Roman, in dem der Japaner Haruki Murakami metaphern- und anspielung­sreich über das Erschaffen von Kunst erzählt. Sollte sich das Buch gegen das Lesen wehren – es macht es einem nicht immer leicht, vieles bleibt im Vagen, ab und zu entgleitet es ins Banale – geben Sie ihm einen Hieb und warten Sie, bis es wieder zu sich kommt … (stw)

Dumont, 496 S., 26 ¤

 ??  ?? Gekreuzte Beine, gespreizte Hände, ehrerbieti­g gebückte Haltung: zwei der überliefer­ten zehn Münchner Moriskentä­nzer von Erasmus Grasser, 1480. Der linke ist im 20. Jahrhunder­t mit dem Verabredun­gsnamen „Zauberer“getauft worden, der rechte – klar...
Gekreuzte Beine, gespreizte Hände, ehrerbieti­g gebückte Haltung: zwei der überliefer­ten zehn Münchner Moriskentä­nzer von Erasmus Grasser, 1480. Der linke ist im 20. Jahrhunder­t mit dem Verabredun­gsnamen „Zauberer“getauft worden, der rechte – klar...
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Fotos: Adler/Jank, Münchner Stadtmuseu­m
 ?? Foto: Matthias Weniger ?? Auch dieser Petrus von Erasmus Grasser aus St. Peter in München sinniert mit Den kerfurchen unter dem Stirnhaarb­üschel.
Foto: Matthias Weniger Auch dieser Petrus von Erasmus Grasser aus St. Peter in München sinniert mit Den kerfurchen unter dem Stirnhaarb­üschel.
 ??  ?? Haruki Muraka mi: Die Ermor dung des Com mendatore II,
Haruki Muraka mi: Die Ermor dung des Com mendatore II,
 ??  ?? Volker Klüpfel, Michael Kobr: Kluftinger.
Volker Klüpfel, Michael Kobr: Kluftinger.

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