Hat die Polizei Fehler gemacht?
Der Polizeiexperte Adolf Gallwitz analysiert die umstrittenen Einsätze von Ellwangen und die schwierige Arbeit der Beamten angesichts der emotionalen Flüchtlingsdebatte im Land
Herr Gallwitz, der Polizeieinsatz in der Flüchtlingsunterkunft im badenwürttembergischen Ellwangen Anfang der Woche hat viele Diskussionen ausgelöst. Ein Kritikpunkt betrifft den nächtlichen Zeitpunkt der Abschiebeaktion. Wie beurteilen Sie die Geschehnisse?
Gerade durch die Terrorismusbekämpfung schiebt die Polizei viele Überstunden vor sich her. Hinzu kommen Personalprobleme, mit denen viele Dienststellen konfrontiert sind. Die Strategie und die Zeitplanung bei solchen Einsätzen hat sicherlich verschiedene Gründe: Einerseits spielt die Verfügbarkeit der Einsatzkräfte eine große Rolle. Für die Nachtzeit spricht außerdem, dass im Normalfall weniger Aufmerksamkeit erregt wird. Dass der Zeitpunkt mit Absicht in die Nachtstunden verlegt wurde, um Menschen aufzuwecken und hochzuschrecken, halte ich jedoch für an den Haaren herbeigezogen. Hat die Polizei bei dem Einsatz Fehler gemacht?
Die Beamten haben sehr einfühlsam gehandelt, indem sie während des ersten Einsatzes eben nicht versucht haben, die Abschiebung durchzusetzen. Damit hätten sie mutmaßlich eine viel größere Eskalation ausgelöst. Ein Rückzug ist manchmal die intelligentere Lösung, ja sogar in manchen Fällen die beste Verteidigung – und keineswegs ein Zeichen für Schwäche. Die Polizei hat am frühen Donnerstagmorgen, als hunderte Polizisten und Spezialkräfte die Flüchtlingsunterkunft umzingelt und schließlich gestürmt haben, Stärke bewiesen. War die Razzia ein notwendiges Zeichen?
Die Beamten am Donnerstag haben sehr weitsichtig gehandelt: Es sind ja nicht alle Einsatzkräfte in die Unterkunft gestürmt, viele waren im Hintergrund und hätten schnell eingreifen können, wenn es erneut zu Ausschreitungen gekommen wäre.
Wie erklären Sie sich solche Geschehnisse wie in Ellwangen – ist der Rechtsstaat zum Teil machtlos?
In den vergangenen Monaten gab es einige verhinderte Abschiebungen. Grundsätzlich ist es ja so: Menschen sind mit politischen Entscheidungen einverstanden, solange sie in ihrem Sinne sind. Wenn das nicht der Fall ist, gibt es Demonstrationen. Diese Vorgehensweise ist mittlerweile auch auf unsere Gäste übergegangen. Sie schöpfen alle Rechtsmittel aus. Wir bemerken durchaus eine Steigerung, dass Migranten manche politischen Entscheidungen nicht hinnehmen.
Aber darf sich diese Unzufriedenheit in diesem Ausmaß äußern wie in der Aufnahmeeinrichtung in Ellwangen?
Das steht natürlich außer Diskussion. Dass ein derartiger Widerstand gegen die Staatsgewalt mitten in der Bundesrepublik passiert, dass der Respekt gegenüber Polizisten immer weiter abnimmt – das geht nicht. Aber fest steht: Solche Probleme haben wir immer schon gehabt – seien es Atomgegner oder die „Stuttgart 21“-Demonstrationen. Dass Abschiebungen Einzelner, wie dem 23-jährigen Togolesen in Ellwangen, ebenfalls solche Ausmaße annehmen können, damit hat man vielleicht nicht gerechnet. Sie sprechen an, dass die Probleme nicht neu sind. Gleichzeitig war nach den Ausschreitungen vom Montag von einem „rechtsfreien Raum“die Rede: Gibt es in der Flüchtlingsthematik eine Art Hysterie in der Gesellschaft?
Hysterie würde ich es nicht nennen. Aber die Besorgnis in der Bevölkerung wächst seit einigen Jahren, dass die Bundesrepublik mit der Flüchtlingspolitik überfordert ist. Studien zeigen, dass jeder zweite Bürger in Deutschland diese Angst hat. Ein Grund dafür ist sicherlich eine problematische Öffentlichkeitsarbeit. Inwiefern?
Wenn vor Großereignissen von einer „unklaren Gefährdungslage“gesprochen wird, dann trägt das nicht dazu bei, die Menschen zu beruhigen. Denn aus deren Sicht haben wir ohnehin ein Sicherheitsproblem in Deutschland.
Sie sind zeitweise auch an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen tätig. Werden die angehenden Polizisten auf solche Situationen wie in Ellwangen besonders geschult?
In Sachen Deeskalation erhalten Polizisten schon immer Schulungen. Schließlich gibt es häufig Großereignisse oder risikoreiche Demonstrationen. Ob sie speziell auf Situationen in Flüchtlingsunterkünften vorbereitet werden, kann ich nicht sagen, gehe aber davon aus. Interview: Fabian Kluge O
67, ist Polizeipsycho loge und Profiler an der Polizeihoch schule in Villingen Schwenningen. Er war mehrere Jahre lang Profilfahnder in der Fernsehsendung „Fahndungsakte“und hat einige Bücher geschrieben.
Muharrem Ince hielt sich nicht lange mit Nettigkeiten auf. Kaum war der 54-jährige Parlamentsabgeordnete und ehemalige Lehrer als Präsidentschaftskandidat der türkischen sozialdemokratischen kemalistischen CHP nominiert worden, startete er die erste Attacke auf seinen Gegner: Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Anders als Erdogan werde er der Präsident aller Türken sein, sagte Ince – und entfernte das CHP-Parteiabzeichen von seinem Revers, um zu unterstreichen, dass er sich ab jetzt als überparteilicher Kandidat versteht. Zudem werde er nicht in Erdogans Tausend-Zimmer-Palast in Ankara leben, sondern den Bau in eine Schule umwandeln, versprach Ince.
Wie Erdogan liebt Ince den politischen Schlagabtausch und setzt voll auf Angriff. Vor der Präsidentschaftswahl am 24. Juni erhöht er den Druck auf den siegesverwöhnten Staatschef. Erdogan sieht sich mittlerweile vier prominenten Mitbewerbern um das höchste Staatsamt gegenüber: Neben Ince sind das die Nationalistin Meral Aksener, der Islamist Temel Karamollaoglu und der inhaftierte Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas.
Letzterer, ein 45-jähriger Anwalt, könnte einen Schlüssel zum Ausgang der Wahlen in Händen halten. Demirtas tritt aus der Gefängniszelle heraus als Präsidentschaftskandidat der legalen Kurdenpartei HDP an – und könnte die absolute Mehrheit von Erdogan verhindern, indem er kurdische und linksliberale Wähler motiviert. Schon vor vier Jahren verbuchte Demirtas, damals als Chef der HDP, mit zehn Prozent einen Achtungserfolg.
Mit dem redegewandten Ince hat nun auch die CHP die Möglichkeit, ihr Wählerpotenzial von rund 25 Prozent in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl weitgehend auszuschöpfen – für Erdogan bedeutet das, dass seine Chancen auf einen Sieg mit mehr als 50 Prozent der Stimmen im ersten Anlauf sinken. Sollte eine Stichwahl am 8. Juli nötig werden, wollen mehrere Parteien gemeinsam den stärksten Oppositionskandidaten unterstützen.
Ince gibt der seit langem an Flügelkämpfen leidenden CHP die Zuversicht zurück. Jetzt sprieße neue Hoffnung für die Demokratie, jubelte die Oppositionszeitung Cumhuriyet. Gleich nach seiner Nominierung ging Ince zuerst zum Freitagsgebet in eine Moschee und plante anschließend einen Besuch beim letzten säkularistischen Präsidenten der Türkei, Ahmet Necdet Sezer: Er will fromme und laizistische Türken gleichermaßen ansprechen.
Wie viele in der Opposition befürchtet Ince allerdings, dass Erdogan versuchen könnte, eine drohende Niederlage am 24. Juni mithilfe von Wahlmanipulationen abzuwenden. In seiner Antrittsrede als CHPKanididat rief Ince die Anwälte in der Türkei deshalb auf, sich am Wahltag bereit zu halten – um notfalls beim Wahlleiter in Ankara intervenieren zu können.