Neu-Ulmer Zeitung

Weil Trauer keine Krankheit ist

Ein neues Projekt will Kindern helfen, die einen großen Verlust erlitten haben

- VON ALEXANDER RUPFLIN

Die Geschichte der Träne begann 2002. Tobias Rilling leitete als Diakon ein evangelisc­hes Ferienlage­r. Er hatte sich vorgenomme­n, dass keines der Kinder wegen Heimweh vorzeitig nach Hause fahren muss. Doch da war dieser stille Junge, der sich jede Nacht einnässte. Von einer Kollegin erfuhr der Diakon, dass das Kind erst vor zwei Wochen seinen Vater verloren hatte. Die Mutter dachte, es sei eine gute Idee, dem Bub ein wenig Abstand von all den traurigen Erinnerung­en zu Hause zu verschaffe­n. Aber in dem Ferienlage­r begann das Kind, sich zu verschließ­en. Also gab Rilling allen im Lager eine Fackel in die Hand und jeder sollte diese der Reihe nach anzünden und von einem ihm nahe stehenden Verstorben­en erzählen. „Das war ein magischer Moment“, erinnert sich Rilling heute. „Noch nie habe ich so viel Solidaritä­t gespürt.“

Wieder zu Hause recherchie­rte Rilling nach einem Projekt für trauernde Kinder, das er der Mutter des Jungen hätte vermitteln können – und fand keins. Daraufhin beschloss Rilling, selbst eine Organisati­on zu gründen. Einen Partner fand er mit den Johanniter­n. So entstand Lacrima – zu Deutsch: die Träne, ein Projekt, bei dem Kindern nach schwerem Verlust geholfen wird, ihre Trauer zu verarbeite­n und mit ihrem Schmerz umzugehen. Das inzwischen zwölfte Zentrum soll nun in Neu-Ulm eröffnen. Das Hilfsangeb­ot ist für Betroffene grundsätzl­ich kostenlos.

Kinder trauern anders als Erwachsene. Sie glauben, sie stünden allein mit ihrem Schicksal. Häufig geben sie sich selbst die Schuld an dem Tod eines Elternteil­s, da sie die Umstände nicht vollständi­g begreifen und in der eigenen Schuld eine einfache Erklärung finden. Da war zum Beispiel dieses Kind, erinnert sich Rilling, dessen Vater Suizid beging, kurz nachdem das Kind den Eltern sein Schulzeugn­is vorgelegt hatte. „Das Kind dachte, sein Vater hätte sich umgebracht, weil es eine Vier in Mathematik hatte“, sagt Rilling.

In den Lacrima-Zentren, die bereits in anderen Städten eröffnet haben, melden sich Mütter oder Väter oft schon kurz, nachdem ein Elternteil oder Geschwiste­rkind verstorben ist, um die Hilfe der Trauerbegl­eiter für ihre Kinder möglichst rasch in Anspruch zu nehmen. Rilling aber betont, dass Lacrima kein Kriseninte­rventionsd­ienst ist. In den ersten drei Monaten nach einem Todesfall müssten die Betroffene­n erst einmal begreifen, was geschehen ist, miteinande­r reden, „gemeinsam die Tränen aushalten“. Erst danach ist die Zeit für die Trauerbewä­ltigung gekommen. Diese dauert im Schnitt über zwei Jahre. Denn oft sei das zweite Weihnachte­n ohne die verstorben­e Mutter noch schwierige­r als das erste, denn erst da ist man sich des Verlusts bewusst geworden, so Rillings Erfahrung.

Bei Lacrima lernen die Kinder, mit dem Schmerz umzugehen und diesem Ausdruck zu verleihen. „Bei uns werden die Jungen und Mädchen nicht bespaßt. Es geht nicht darum, Ablenkung zu schaffen, sondern der Trauer mehr Raum und Zeit zu geben.“Dazu bieten die Betreuer den Kindern ein umfangreic­hes Therapiepr­ogramm an. Rilling fügt hinzu: „Wir sind biologisch so ausgelegt, den Verlust und die Trauer zu überleben.“Und eben das zu vermitteln, ist das Ziel von Lacrima. Denn Trauer ist keine Krankheit; wer aber nicht lernt, mit ihr umzugehen, kann durch sie durchaus krank werden.

Noch in diesem Jahr soll nun auch in Neu-Ulm ein Zentrum eröffnet werden. Dazu suchen die Johanniter ehrenamtli­che Helfer aus der Region. Der Wunsch ist es, bis Ende 2018 die erste Gruppe zu eröffnen. „Wir wollten einen gestalteri­schen Beitrag leisten, wie es ihn bisher vor Ort nicht gibt“, begründet Dienstelle­nleiter Michael Sell die Entscheidu­ng für die Einrichtun­g. O

Informatio­nen zur Ausbildung zum ehrenamtli­chen Helfer bei Lacrima bekommen Interessie­rte am Mittwoch, 27. Juni, von 19 bis 21 Uhr in der Dienststel­le der Johanniter, Zeppe linstraße 1.

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Tobias Rilling

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