Weil Trauer keine Krankheit ist
Ein neues Projekt will Kindern helfen, die einen großen Verlust erlitten haben
Die Geschichte der Träne begann 2002. Tobias Rilling leitete als Diakon ein evangelisches Ferienlager. Er hatte sich vorgenommen, dass keines der Kinder wegen Heimweh vorzeitig nach Hause fahren muss. Doch da war dieser stille Junge, der sich jede Nacht einnässte. Von einer Kollegin erfuhr der Diakon, dass das Kind erst vor zwei Wochen seinen Vater verloren hatte. Die Mutter dachte, es sei eine gute Idee, dem Bub ein wenig Abstand von all den traurigen Erinnerungen zu Hause zu verschaffen. Aber in dem Ferienlager begann das Kind, sich zu verschließen. Also gab Rilling allen im Lager eine Fackel in die Hand und jeder sollte diese der Reihe nach anzünden und von einem ihm nahe stehenden Verstorbenen erzählen. „Das war ein magischer Moment“, erinnert sich Rilling heute. „Noch nie habe ich so viel Solidarität gespürt.“
Wieder zu Hause recherchierte Rilling nach einem Projekt für trauernde Kinder, das er der Mutter des Jungen hätte vermitteln können – und fand keins. Daraufhin beschloss Rilling, selbst eine Organisation zu gründen. Einen Partner fand er mit den Johannitern. So entstand Lacrima – zu Deutsch: die Träne, ein Projekt, bei dem Kindern nach schwerem Verlust geholfen wird, ihre Trauer zu verarbeiten und mit ihrem Schmerz umzugehen. Das inzwischen zwölfte Zentrum soll nun in Neu-Ulm eröffnen. Das Hilfsangebot ist für Betroffene grundsätzlich kostenlos.
Kinder trauern anders als Erwachsene. Sie glauben, sie stünden allein mit ihrem Schicksal. Häufig geben sie sich selbst die Schuld an dem Tod eines Elternteils, da sie die Umstände nicht vollständig begreifen und in der eigenen Schuld eine einfache Erklärung finden. Da war zum Beispiel dieses Kind, erinnert sich Rilling, dessen Vater Suizid beging, kurz nachdem das Kind den Eltern sein Schulzeugnis vorgelegt hatte. „Das Kind dachte, sein Vater hätte sich umgebracht, weil es eine Vier in Mathematik hatte“, sagt Rilling.
In den Lacrima-Zentren, die bereits in anderen Städten eröffnet haben, melden sich Mütter oder Väter oft schon kurz, nachdem ein Elternteil oder Geschwisterkind verstorben ist, um die Hilfe der Trauerbegleiter für ihre Kinder möglichst rasch in Anspruch zu nehmen. Rilling aber betont, dass Lacrima kein Kriseninterventionsdienst ist. In den ersten drei Monaten nach einem Todesfall müssten die Betroffenen erst einmal begreifen, was geschehen ist, miteinander reden, „gemeinsam die Tränen aushalten“. Erst danach ist die Zeit für die Trauerbewältigung gekommen. Diese dauert im Schnitt über zwei Jahre. Denn oft sei das zweite Weihnachten ohne die verstorbene Mutter noch schwieriger als das erste, denn erst da ist man sich des Verlusts bewusst geworden, so Rillings Erfahrung.
Bei Lacrima lernen die Kinder, mit dem Schmerz umzugehen und diesem Ausdruck zu verleihen. „Bei uns werden die Jungen und Mädchen nicht bespaßt. Es geht nicht darum, Ablenkung zu schaffen, sondern der Trauer mehr Raum und Zeit zu geben.“Dazu bieten die Betreuer den Kindern ein umfangreiches Therapieprogramm an. Rilling fügt hinzu: „Wir sind biologisch so ausgelegt, den Verlust und die Trauer zu überleben.“Und eben das zu vermitteln, ist das Ziel von Lacrima. Denn Trauer ist keine Krankheit; wer aber nicht lernt, mit ihr umzugehen, kann durch sie durchaus krank werden.
Noch in diesem Jahr soll nun auch in Neu-Ulm ein Zentrum eröffnet werden. Dazu suchen die Johanniter ehrenamtliche Helfer aus der Region. Der Wunsch ist es, bis Ende 2018 die erste Gruppe zu eröffnen. „Wir wollten einen gestalterischen Beitrag leisten, wie es ihn bisher vor Ort nicht gibt“, begründet Dienstellenleiter Michael Sell die Entscheidung für die Einrichtung. O
Informationen zur Ausbildung zum ehrenamtlichen Helfer bei Lacrima bekommen Interessierte am Mittwoch, 27. Juni, von 19 bis 21 Uhr in der Dienststelle der Johanniter, Zeppe linstraße 1.