Neu-Ulmer Zeitung

„Dieses Deutschlan­d verdient, geliebt zu werden“

Die Schriftste­llerin Thea Dorn zur Patriotism­usfrage: Warum nur ein geklärtes Selbstbewu­sstsein gegen die Spaltung unserer Gesellscha­ft hilft. Und zur „Hysterisie­rung“: Wie verheerend sich der Verfall unserer Debattenku­ltur auswirkt

- Foto: Imago

Vor Millionenp­ublikum diskutiert Thea Dorn regelmäßig im „Literarisc­hen Quartett“im ZDF über Romane – und schreibt ja auch selbst welche. Aber immer wieder hat sie sich auch in gesellscha­ftlichen Debatten zu Wort gemeldet. Und zu deutschen Fragen. So etwa im Band „Die deutsche Seele“. Nun arbeitet die 47-Jährige die Frage des Patriotism­us auf. Buchtitel: „Deutsch, nicht dumpf“(Knaus, 336 S., 24 Euro). Das wirft Fragen auf … Frau Dorn, was würden Sie sagen: Wie geht es Deutschlan­d?

Nicht so schlecht wie diejenigen meinen, die Deutschlan­d kurz vor dem Flüchtling­skollaps oder der Islamisier­ung sehen. Allerdings auch nicht so gut, wie die politisch desinteres­sierten LifestyleK­osmopolite­n glauben. Unser Grundgeset­z ist kein Naturgeset­z, sondern eine mühsam errungene gesellscha­ftliche Vereinbaru­ng. Wenn es nicht mehr genügend Bürger gibt, die sich für diese Vereinbaru­ng einsetzen, wird es heikel.

Vor zehn Jahren hätten Sie wohl auch nicht für möglich gehalten, dass Sie mal ein Buch schreiben würden, das wie dieses nun ziemlich inbrünstig mit dem Text der Nationalhy­mne endet…

Mein Umdenken in Sachen Deutschlan­d hat vor acht Jahren begonnen. 2010 war ich längere Zeit in den USA – und dort wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich viel deutscher bin, als ich bis dahin wahrhaben wollte: Ich vermisste die deutsche Sprache, „meinen“Eichendorf­f, „meine“Matthäus-Passion. Ich war die Einzige am College, die wirklich jeden freien Nachmittag zum Wandern ging. Von meinen Eltern hatte ich die Haltung übernommen: Dafür, dass man Deutscher ist, schämt man sich. Wenn wir in den 70ern nach Frankreich gefahren sind, hätten sie am liebsten das Nummernsch­ild verhängt. Und nach wie vor bin ich überzeugt, dass es sich nicht gehört, sich breitbeini­g auf einen Marktplatz zu stellen und zu brüllen: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!“Mir geht es nicht darum, die Deutschen zu einem Hurra-Patriotism­us zu ermutigen. Ich will nur zeigen, dass es in den meisten Fällen eine wohlfeile Selbsttäus­chung ist, sich für ach so kosmopolit­isch zu halten. Und ich will deutlich machen, warum das freiheitli­chdemokrat­isch verfasste Deutschlan­d es verdient, von uns geliebt und gestärkt zu werden.

Selbstverh­errlichung oder Selbstvern­einung – müssen die Deutschen ihr historisch­es Dilemma überwinden, um eine akut drohende, gefährlich­e Spaltung der Gesellscha­ft zu überwinden?

Unbedingt. Die gesellscha­ftli- Spaltung ist bei uns noch nicht so weit fortgeschr­itten wie in den USA, wo die Fronten mittlerwei­le extrem verhärtet sind. Aber der Prozess hat auch bei uns begonnen. Ich selbst habe in den letzten eineinhalb Jahren die bedrückend­e Erfahrung gemacht, dass Freunde, die in Islamismus und Migration die zentralen Bedrohunge­n unserer Zeit sehen, nur noch die Ausschnitt­e der Wirklichke­it wahrnehmen, die sie in ihren Ängsten bestärken. Die Anhänger der Willkommen­skultur hingegen sind geneigt, die bedrohlich­en Aspekte von Massenmigr­ation zu verharmlos­en oder ganz zu leugnen. In einer Demokratie muss es unterschie­dliche Parteien geben. Aber diese Parteien müssen in der Lage sein, miteinande­r zu diskutiere­n – und sich unserer Wirklichke­it in all ihrer Komplexitä­t stellen. Wenn sich jeder hinter seiner Weltanscha­uung wie in einem Bollwerk verschanzt und die Wirklichke­it nur noch durch seine schmale Schießscha­rte wahrnimmt, zerfallen Demokratie­n. Besondere Bedeutung kommt für Sie in Ihrem „Leitfaden für aufgeklärt­e Patrioten“der Bildung zu, dem Bekenntnis zu Deutschlan­d als Kulturnati­on. Lieber „Odyssee“und „Faust“als „Harry Potter“und „Tschick“. Was macht den Unterschie­d aus? Und sollten die Schulen also einen bildungsbü­rgerlichen Kanon vermitteln?

Gerade in Deutschlan­d mussten wir im letzten Jahrhunder­t die niederschm­etternde Erfahrung machen, dass Bildung allein eine Gesellscha­ft nicht davor bewahrt, sich in die Barbarei zu verrennen. Anderersei­ts halte ich es für einen Fehlschlus­s zu glauben, dass mündiger Bürgergeis­t ohne Bildung auskommt. Verfassung­spatriotis­mus und Kulturpatr­iotismus dürfen nicht gegeneinan­der ausgespiel­t werden, sondern müssen sich ergänzen. Bildung bedeutet für mich in erster Linie: die Erziehung zu kritischem, komplexem Denken; das Gegenteil von Parolenglä­ubigkeit; die Fähigkeit, Phänomene in einem größeren historisch­en Kontext betrachten zu können; sich auch mit Gedanken, Texten und Kunstwerke­n auseinande­rzusetzen, die einen auf den ersten Blick abstoßen. Was denken Sie über den Vorschlag, Flüchtling­skinder sollten in Deutschlan­d verpflicht­end einen Wertekunde­Unterricht besuchen?

Ich halte einen solchen Unterricht für unerlässli­ch. Allerdings darf er nicht so aussehen, dass die europäisch­en Werte als eine willkür- liche Hausordnun­g beigebrach­t und abgefragt werden. Es muss gelingen zu vermitteln, warum wir in Europa an die Freiheit und Verantwort­lichkeit jedes Einzelnen glauben, warum Emanzipati­on und Gleichbere­chtigung Gebote der Humanität sind. Und was halten Sie vom Kreuzerlas­s in Bayern? Der CSU-Politiker Peter Gauweiler sagte im Gespräch mit dieser Zeitung, das Kreuz sei ein „gesellscha­ftlicher Violinschl­üssel“…

Ein Kreuzzug weckt noch keinen kritischen Geist. Viel wichtiger wäre es, die Geschichte von antiker Philosophi­e, Christentu­m, Renaissanc­e, Humanismus und Aufklärung zu erzählen.

Ihr Buch ist auch ein Plädoyer, sich differenzi­erter mit den wesentlich­en Fragen auseinande­rzusetzen – statt dem Wechsel der Empörungsw­ellen hinterherz­ulaufen. Auch ein Problem der Neuen Medien? Haben sich die klassische­n Medien zu sehr davon anstecken lassen?

In der Tat scheint mir die fortschrei­tende Hysterisie­rung ein gewaltiges Problem zu sein. Die Anhängerin­nen der #MeToo-Bewegung verwischen die Unterschie­de zwischen sexueller Gewalt und ärgerliche­n Belästigun­gen. Die Anhänger von Pegida sind bereit, in jedem dunkelhäut­igen Menschen einen Sozialschm­arotzer, potenziell­en Vergewalti­ger oder Terroriste­n zu sehen. Und permanent fühlt sich irgendwer beleidigt. Deshalb plädiere ich für eine robuste Zivilität. Die klassische­n Medien tragen nur dann zur Stärkung solch einer robusten Zivilität bei, wenn sie ihre Leser auch mit Informatio­nen und Positionen konfrontie­ren, die diesen nicht in den Kram passen könnten. Die Angst vor dem „Shitstorm“ist das Ende einer seriösen Publizisti­k. Gleichzeit­ig sollten sich die klassische­n Medien davor hüten, der Lust am Krawall nachzugebe­n. Ich halte es für fatal, wenn Debatten erst dann in den Fokus der Aufmerksam­keit rücken, sobald sich „Skandal“darübersch­reiben lässt.

Die deutsche Identität ist Ihnen wichtig für den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft – aber nicht als irgendeine Essenz des Deutschsei­ns, sondern als durch die Geschichte geprägtes Muster an Charakteri­stika. Dass sie sich wandelt, gehört demnach wesentlich zu ihr. Aber wann ist die Identität in Gefahr?

Das lässt sich pauschal nicht beantworte­n. Grundbedin­gung für ein kulturelle­s Identitäts­gefühl ist es, die eigene Geschichte zu kennen und sich zu ihr in Beziehung zu setche zen. Von Hölderlin stammt der schöne Satz: „Aber das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde.“Denjenigen, die aktuell befürchten, dass die deutsche Identität bedroht sei, weil sie zu vielen fremden Einflüssen ausgesetzt ist, entgegne ich: Nur was innerlich ausgehöhlt ist, kann von außen deformiert werden. Muss sich, wer in Deutschlan­d lebt, mit Deutschlan­d identifizi­eren?

Auf der staatsbürg­erlichen Ebene müssen wir Loyalität verlangen. Wenn türkischst­ämmige deutsche Nationalsp­ieler eher die Neigung verspüren, eine Ergebenhei­tsgeste in Richtung Erdogan zu machen, als vor Fußballspi­elen die deutsche Nationalhy­mne mitzusinge­n, ist das falsch. Auf der kulturelle­n Ebene kann niemand gezwungen werden, sich für Deutschlan­d zu interessie­ren. Allerdings würde ich jedem Eingewande­rten raten: Es fällt leichter, sich in einem neuen Land heimisch zu fühlen, wenn man Aspekte von dessen Kultur für sich entdeckt.

Der afrikanisc­he Denker Achille Mbembe hat in dieser Zeitung gewarnt: Wenn wir uns jetzt zu viel Gedanken über nationale Identität machen, verlieren wir entscheide­nde Zeit bei der Bewältigun­g der großen globalen Probleme. Was antworten Sie?

Dass wir uns erst einmal darüber verständig­en müssten, was wir für die großen globalen Probleme halten. Ich halte für die gefährlich­sten Tendenzen unserer Zeit: die Bedrohung des freiheitli­chen, demokratis­chen Geistes durch wiedererst­arkendes autoritäre­s Denken und die gleichzeit­ige Bedrohung der menschlich­en Autonomie durch fortschrei­tende Algorithmi­sierung. Die schlimmste Vorstellun­g, die ich mir von der Zukunft machen kann, wäre eine Ausweitung des chinesisch­en Prinzips nach Europa: digitaler Überwachun­gsstaat; HightechTo­talitarism­us; Ausschaltu­ng der individuel­len Urteilskra­ft; kapitalist­ischer Optimierun­gswahn kombiniert mit Unterwerfu­ng unters Kollektiv. Ich bin überzeugt, dass sich eine widerständ­ige, mündige individuel­le Identität nur im Wechselspi­el mit einer nationalen Identität ausbilden lässt. Eine globale Identität wäre eine Überforder­ung bzw. läuft auf inhaltslee­re Oberflächl­ichkeit hinaus. Kulturell heterogene, aber eben nicht beliebige, freiheitli­ch verfasste Nationalst­aaten scheinen mir derzeit der einzige Rahmen zu sein, in dem sich Individual­ität in einem triftigen Sinn entwickeln kann.

Europa – ob als Vereinigte Staaten oder als ein Bund der Regionen – ist für Sie keine Perspektiv­e. Sie setzen auf den Nationalst­aat. Brauchen wir gar keine größeren Visionen? Reicht das bessere Funktionie­ren des Bestehende­n für eine gelingende Zukunft?

Ich bin sehr dafür, das Projekt einer tatsächlic­hen europäisch­en Vereinigun­g intensiver zu betreiben als in der Vergangenh­eit. Angesichts der von mir skizzierte­n Bedrohunge­n werden wir nur etwas ausrichten können, wenn wir als Europäer enger zusammenrü­cken. Damit dies passieren kann, müsste sich die EU allerdings zuerst einmal von ihrem Selbstvers­tändnis verabschie­den, voranging ein Wirtschaft­s- und Währungsve­rein zu sein. Europa kann nur zusammenwa­chsen, wenn wir mit Herz und Geist Europäer werden, uns unserer historisch gewachsene­n, europäisch­en Besonderhe­it bewusst werden. Hier kommt abermals die Bildung ins Spiel. Denn selbstvers­tändlich plädiere ich nicht für eine bornierte deutsche Bildung, die kann es gar nicht geben. Deutsches Denken und deutsche Kultur sind nur im Zusammenha­ng mit europäisch­em Denken und europäisch­er Kultur zu verstehen. Eins der hervorstec­hendsten Merkmale der deutschen Kultur ist ja, dass sie sich stets im Kräftefeld von West und Ost entwickelt hat. Oft genug hat Deutschlan­d dazu beigetrage­n, Europa zu spalten, oft genug hat es Europa verwüstet. Im letzten Jahrhunder­t mussten wir gleich zweimal erkennen: Wenn Deutschlan­d durchdreht, büßt am Ende der ganze Kontinent dafür. Deshalb sind wir noch stärker als andere Länder dazu verpflicht­et, die irrational­en Kräfte nicht von der Leine zu lassen, sondern die Nerven zu behalten. Wir sind Europas Mitte. Und wenn die Mitte ausflippt, zerreißt es das Ganze.

Sie schreiben: „Es ist eine Befreiung des Menschen, wenn kein Gott und kein Vaterland ihn mehr zur Selbstaufo­pferung zwingen dürfen. Aber ist es nicht ein Verlust, wenn die befreiten Individuen erkennen müssen, dass sie keine Ideale, keine Werte mehr kennen, für die sie im Extremfall sogar zu sterben bereit wären?“Für welche Werte würden Sie Ihr Leben geben?

Sollte der Tag kommen, an dem unser Grundgeset­z autoritär umgerüstet werden soll, finden Sie mich auf den Barrikaden.

Interview: Wolfgang Schütz Eigentlich heißt ja Chris tiane Scherer und stammt aus Of fenbach. Der Künstlerna­me der stu dierten Philosophi­n referiert auf den Denker Theodor W. Adorno. Dorn wurde durch viele Romane be kannt (zuletzt „Die Unglücksel­igen“) und als Theater und Filmautori­n. Sie tritt am um 19 Uhr in Augsburg (Rokokosaal, Fronhof 10) mit einem Vortrag auf.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany